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Fachkräftemangel: Hochschulpolitik im Phlegma

Deutschland braucht dringend mehr Studierende. Doch die letzte große Chance droht zu verstreichen.

Gerade hat es die OECD den Deutschen wieder einmal gesagt: Wenn in der Bundesrepublik auch künftig zu wenig Schulabgänger studieren, wird der Fachkräftemangel dramatisch zunehmen. Für die OECD als die Organisation der führenden Länder der Welt ist Bildung zu einem Haupttreiber für die wirtschaftliche Entwicklung geworden.

Ist der geringe Anteil der Studierenden und der international noch geringere Anteil von Hochschulabsolventen in Deutschland gottgegeben, oder kann man daran etwas ändern? Man kann sehr viel ändern. Aber dann muss Deutschland die in den nächsten Jahren sich bietende Chance nutzten, möglichst viele Jugendliche an die Hochschulen zu schicken. In den Jahren von 2011 bis 2020 verlassen die letzten starken Jahrgänge die Schulen. Und in den Jahren 2010 bis 2014 suchen jeweils zwei Abiturientenjahrgänge zur gleichen Zeit neue Studienplätze. Die umstrittene Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre wird in den kommenden Jahren an den Hochschulen voll durchschlagen.

Wie bereitet sich Deutschland auf diese einmalige und nicht wiederkehrende Situation vor? Mit Filibustern, mit Endlosdiskussionen ohne sichtbare Ergebnisse. Mit Vertagungen, als ob noch sehr viel Zeit zur Verfügung stünde, um mehr oder weniger schlechte Kompromisse zu finden.

Eine Baustelle tut sich neben der anderen auf: Es gibt kein bundesweit funktionierendes Zulassungssystem mehr. Zurzeit ist es durchaus möglich, dass der in den Schulen so mühsam erarbeitete Zeitgewinn von einem Jahr anschließend vertan wird, sobald die Schulabgänger wegen des ausufernden lokalen Numerus clausus an den Hochschulen vor verschlossenen Türen stehen. Warteschleifen von einem Jahr und mehr könnten die Schulzeitverkürzung zunichtemachen.

Muss das so sein? Seit 2004 wussten alle Beteiligten, dass ein neues Zulassungsverfahren gefunden werden muss, wenn die Zwangszuweisung der Bewerber auf freie Studienplätze durch die ZVS beendet wird. Seitdem wird hin und her diskutiert mit der Folge, dass ein funktionierendes neues Zulassungsverfahren vielleicht erst zum Wintersemester 2009/2010 starten kann. Ein entsprechender Staatsvertrag befindet sich zurzeit im Ratifizierungsverfahren der Länder. Ob der Termin eingehalten werden kann, ist ungewiss. Ein erster Probelauf in Jura und Betriebswirtschaft nach dem neuen Dialogverfahren endete mit zweifelhaften Ergebnissen. Nur fünf Universitäten beteiligten sich an dem Probelauf, die anderen mauerten. Warum ist das so? Die Länder können sich mit den Hochschulen nicht auf ein neues Zulassungssystem einigen: Die Kultusminister favorisieren die bewährte ZVS, die Hochschulen setzen eher auf Assist, eine Einrichtung, die bisher nur Erfahrungen in der Zulassung von ausländischen Studienbewerbern hat. Worum geht es? Um ein Dialogverfahren, das die unterschiedlichen Anforderungen in den zahllosen neuen Studiengängen berücksichtigt, das den Bewerbern rechtzeitig freie Studienplätze nachweist. Zurzeit weiß niemand in den Ministerien, im Wissenschaftsrat und in der Hochschulrektorenkonferenz, was mit denen geschieht, die studieren wollen, aber sich vergeblich bemüht haben. Man weiß auch nicht, wie viele es sind, weil jede Hochschule in eigener Regie für hochspezialisierte neue Studiengänge zulässt oder abweist.

Baustelle zwei: Es gibt immer mehr Schulabgänger, die zum Studium qualifiziert sind, aber die Zahl der Studienanfänger nimmt nicht im gleichen Maße zu. Das mag viele Gründe haben: Zum Beispiel könnten die Kostensteigerungen bei Energie und Lebensmitteln immer mehr Familien davon abhalten, ihren Kindern ein teures Studium zu finanzieren. Aber die Frage, ob man Studiengebühren wieder abschaffen soll, wird von den CDU-regierten Ländern gar nicht erst diskutiert. Es gibt noch kein auf die neue Situation abgestelltes Stipendiensystem. Die Wirtschaft schiebt alle Verantwortung dem Staat zu und legt trotz gegenteiliger Versprechen bisher kein großes Stipendienangebot auf den Tisch.

Dabei drängt die Zeit. Die jüngste Statistik der Kultusministerkonferenz über die Zahl der zu erwartenden Schulabgänger ist dramatisch. Wenn es deutsche Politiker mit der Priorität für die Bildung wirklich ernst nehmen würden, müssten sie schnell eine Antwort finden. Die Zahlen sagen: Alles, was im Jahr 2005 von der Kultusministerkonferenz und dem Wissenschaftsrat zur Grundlage für den Ausbau an Studienplätzen im Hochschulpakt I gerechnet wurde, beruht auf viel zu niedrigen Schätzungen. Die neuesten Zahlen belegen: Es wird in den Jahren von 2011 bis 2020 sage und schreibe 536 480 Schulabgänger mit Studienberechtigung zusätzlich geben. In den meisten Jahren sind nach der neuen Prognose in den westlichen Flächenländern über 50 000 Schulabgänger mehr zu erwarten, in Spitzenjahren wie 2013 und 2015 sind es über 60 000. Die Zahl der Studienanfänger pro Jahr wird von heute 358 673 auf weit über 400 000 steigen. Neue Berechnungen für den Bedarf an Studienplätzen will der Wissenschaftsrat im Dezember oder Anfang 2009 vorlegen.

Aber schon vorher auf dem Bildungsgipfel im Oktober müssen die Politiker Nägel mit Köpfen machen. Während der jetzt laufende Hochschulpakt I mit 91 370 neuen Studienplätzen bis zum Jahr 2010 auskommen sollte, werden es für die neue Periode bis 2015 mindestens 200 000 neue Studienplätze sein. Das dürfte Bund und Länder über fünf Milliarden Euro kosten. Das ist eine gewaltige Summe – und noch knapp kalkuliert. Denn noch mehr muss für Studienplätze ausgegeben werden, will man den nächsten Hochschulpakt nicht wieder so unterfinanzieren wie den ersten.

Im jetzt laufenden Hochschulpakt I wurde jeder Studienplatz für nur vier Jahre finanziert, obwohl die Kombination von Bachelor und Master fünf Jahre dauert. Außerdem wurde ein Durchschnittswert für einen Studiengang in Höhe von 5500 Euro pro Jahr angesetzt, der für Studienangebote an den Fachhochschulen und die Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten ausreichte, nicht jedoch für die teuren Naturwissenschaften mit rund 6800 Euro Jahreskosten oder die Ingenieurwissenschaften mit 7400 Euro, geschweige denn für die Medizin mit 27 900 Euro Jahreskosten (siehe Tabelle).

Auch hatten sich Bund und Länder von Anfang an auf einen um 900 000 Euro zu niedrigen Ansatz geeinigt. Man begrenzte alle Ausgaben im Sinne der mittelfristigen Finanzplanung auf das Jahr 2010. Dabei verursachen 2008 zugelassene Studenten auch noch im Jahr 2012 Kosten . Selbst 2009 eingeschriebene Studenten fallen den Hochschulen noch im Jahr 2013 finanziell zur Last.

Und die Lehre braucht sogar noch mehr Geld. Sollen Bachelor und Master nicht scheitern, müssten pro Jahr weitere 1,1 Milliarden Euro zusätzlich in die Hochschullehre investiert werden. Das empfiehlt der Wissenschaftsrat.

Auf den Hochschulpakt I konnten sich die Länder nur unter Mühen einigen. Der neue Hochschulpakt wird aber noch deutlich teurer. Druck kommt von der Wirtschaft: 80 große Unternehmen appellieren an den Bildungsgipfel, das Paket diesmal nicht wieder unterzufinanzieren.

Uwe Schlicht

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