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Intensive Medizin. Auch hochgerüstete Krankenhäuser machen Fehler – etwa, indem sie sich zu sehr auf Apparate verlassen und dabei Grundregeln der Erkennung und Behandlung von Krankheiten außer Acht lassen.

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Fehldiagnose Krebs: Spitzenmedizin mit Todesfolge

An einer Uniklinik wird ein Patient falsch diagnostiziert und stirbt. Es zeigt sich: Das Versagen der Ärzte hat tiefere Ursachen.

Qualität! – ein Begriff, ohne den unsere westliche Konsumgesellschaft nicht denkbar ist. Ob Fernreise, Tomatenketchup oder Herrensocken – ohne das Siegel der Qualität lässt sich heute kaum mehr etwas an den Mann oder die Frau bringen. Und längst ist auch dort, wo es um unser höchstes Gut geht, die Gesundheit, der Ruf nach Qualität unüberhörbar geworden. Heute versprechen Kliniken, Ärzte, Apotheken und Medizingeräteindustrie wie selbstverständlich höchste Qualität. Ihre Empfänger indes, die Patienten, von vielen Ärzten und Kliniken heute zu „Kunden“ deklariert und als solche beworben, erwarten, dass sie der Zusicherung bestmöglicher Behandlungsqualität auf der Grundlage besten Wissens und Gewissens derer, die sie bereitstellen, vertrauen dürfen.

Was aber bedeutet Qualität in der Medizin? Was sind ihre Kriterien? Klinische Qualitätszirkel, Tumorkonferenzen, Ärztekammern, Krankenkassen, Medizinkongresse und nicht zuletzt Politik und Medien machen sich hierzu seit Jahren Gedanken. Immer wieder wird höhere Qualität gefordert: Sie betrifft schlichtes ärztliches Hygieneverhalten (Händewaschen!) ebenso wie die Unterbewertung sprechender Medizin, die mangelnde Berücksichtigung medizinischer Leitlinien, fehlendes Lernen aus Behandlungsfehlern, den ausufernden ökonomischen Druck auf ärztliche Behandlungsentscheidungen sowie manch andere Faktoren, die auf ärztliches Entscheiden und Handeln Einfluss nehmen.

Tod nach vier Wochen Behandlung

Hier sei am „Fall“ eines Patienten gezeigt, was gute Qualität nicht ist. Es geht um das Schicksal eines Patienten, der sich im letzten Jahr an einer norddeutschen Universitätsklinik einer vierwöchigen Behandlung unterzog, die mit seinem – vermeidbaren – Tod endete.

Karl R. ist 79 Jahre alt, ein rüstiger (Privat-)Patient. Vor vielen Jahren hatte er einen Schlaganfall, es bestehen ein Bluthochdruck und eine koronare Herzerkrankung, der Vorhof seines Herzens flimmert. Ambulante ärztliche Behandlung ermöglicht ihm ein fast normales Leben, er publiziert wissenschaftliche Arbeiten, hält Vorträge.

Das ändert sich schlagartig. Wenige Tage vor seiner Einlieferung in die zentrale Notaufnahme der Universitätsklinik bekommt er plötzlich Fieber; Herr R. fühlt sich unwohl und schwach, geht unsicher und erscheint leicht verwirrt – Symptome, die vielen verschiedenen Krankheiten zugrunde liegen können. Der Hausarzt weist Herrn R. in die Klinik ein.

Eine notwendige internistische Eingangsuntersuchung lassen Arztbrief und Krankenblatt vermissen, dokumentiert sind dagegen zahllose nicht aussagekräftige Blutwerte; eine Untersuchung des Nervensystems ergibt keinen wegweisenden Befund, aus nicht ersichtlichen Gründen wird der Patient dennoch in die Neurologie eingewiesen. Die Ehefrau erhält auf ihre Frage, warum hier über Tage nichts geschehe, die Antwort, es gebe zur Zeit „viele dringliche Fälle, ihr Mann jedoch sei nicht lebensbedrohlich erkrankt“ – ein Urteil ohne ausreichende Grundlage.

Folgenschwerer Fehlschluss: Röntgenärzte diagnostizieren Krebs

Während der folgenden Tage erhält Herr R. nach Einspruch eines ärztlichen Verwandten (!) Antibiotika, gegen bakterielle Krankheitserreger gerichtete Medikamente: Er erholt sich zusehends und kann mit seiner Frau im Park der Klinik spazieren gehen. Der Arztbrief erwähnt eine „deutliche Besserung des Allgemeinzustandes“(!), was eine Infektion als Grunderkrankung mehr als nahelegt, allerdings nicht weiter beachtet wird. Es folgt eine Flut weiterer Blut- und Spezialuntersuchungen, wie EEG (Hirnstromkurve), Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit und die Hinzuziehung eines Herzspezialisten. Ein MRT (Magnetresonanztomografie) des Kopfes und ein PET-CT (ein spezielles bildgebendes Verfahren zur Darstellung des Körperinneren) sollen nun weiteren Aufschluss geben. Tatsächlich, im PET-CT zeigen sich mehrere „Herde“ in beiden Lungenunterlappen sowie Veränderungen an den Nebennieren, auch das MRT des Kopfes lässt mehrere auffällige Bezirke erkennen. Die Röntgenärzte stellen daraufhin die niederschmetternde Diagnose eines bereits gestreuten (metastasierten) Bronchialkarzinoms. Der Ehefrau wird mitgeteilt, „dass es schnell gehen werde, bald werde sich eine Verwirrtheit einstellen und mit mehr als sechs Monaten solle sie nicht rechnen“.

Man empfiehlt eine Nadelbiopsie (Gewebeentnahme) der auffälligen Bezirke in der Lunge. Während der Untersuchung kommt es zu einem Zwischenfall. Herr R. kollabiert, Puls- und Blutdruck sind vorübergehend nicht messbar, Luft tritt in die linke Herzkammer und die große Körperschlagader ein. Die für erfolgreich erklärte Punktion der Lungenherde weist jedoch kein Tumorgewebe auf. Deshalb entschließt man sich zu einer Thorakoskopie, bei der in den Brustkorb eine Optik eingeführt wird, um Zellmaterial aus einem der verdächtigen Lungenbezirke für eine erneute Untersuchung zu gewinnen. Während dieser Operation kommt es zweimal zum Herzflimmern, der Patient muss wiederbelebt werden. Nach seiner Stabilisierung entschließt man sich zu einer Öffnung des Brustkorbs zwecks Entnahme des verdächtigen Lungengewebes. Dessen mikroskopische Untersuchung zeigt wiederum kein Tumorgewebe. Jetzt wird der Patient, künstlich beatmet, auf die Intensivstation übernommen. Eine erneute Wiederbelebung wird notwendig. Schließlich dringt man darauf, die Herzkranzgefäße zu untersuchen (Koronarangiografie). Der Patient, geschwächt und erschöpft, lehnt diese ab, ebenso seine Ehefrau. Ihr Vertrauen in die behandelnden Ärzte ist dahin. Wenig später führen erneute Herzrhythmusstörungen wiederum zu Wiederbelebungsmaßnahmen. Sie bleiben erfolglos.

Nach der Obduktion: Die Suche nach den Ursachen der Fehldiagnose

Die Obduktion konnte weder den immer wieder vermuteten Tumor in der Lunge noch die von den Röntgenärzten diagnostizierten Metastasen in irgendeinem anderen Körpergewebe nachweisen. Stattdessen wiesen alle Untersuchungen auf eine Infektion hin. Todesursache waren verengte Herzkranzgefäße (koronare Herzerkrankung), die letztlich einen Herzinfarkt zur Folge hatten.

Warum nun nahm die Behandlung des Patienten den geschilderten verhängnis- vollen Verlauf? Worin bestanden die konkreten Qualitätsmängel?

1) Herr R. wird mit unspezifischen Symptomen aufgenommen. Seine Vorgeschichte hätte zu einer internistischen Untersuchung und Befunderhebung des Herzens und der Gefäße führen müssen. Doch diese unterblieb. Stattdessen wurde er in die Abteilung für Neurologie eingewiesen, wenn auch der neurologische Eingangsbefund dies nicht rechtfertigte.

2) Das Befinden des Patienten besserte sich nach anfänglicher antibiotischer Behandlung deutlich, was eine infektiöse Ursache seines Krankheitsbildes sehr wahrscheinlich machte. Dies wurde von den Ärzten unverständlicherweise ignoriert. Für sie zählten offenbar allein Bilder und Laborwerte, das gebesserte Befinden blieb für sie bedeutungslos. Stattdessen irrte man weiter durch das Labyrinth der Befunde unnötiger Röntgenuntersuchungen und Eingriffe, einschließlich des schon erwähnten PET-CT.

Niemand hinterfragt die Fehldiagnose

3) Der für dessen Befundung verantwortliche Röntgenarzt durfte die Diagnose „metastasierter Lungentumor“ nicht stellen, allein einen Verdacht hätte er äußern dürfen. Das weitere Vorgehen hätte im Rahmen einer Tumorkonferenz unter Beteiligung der verschiedenen Fachgebiete erörtert werden müssen. Auch sie unterblieb. Stattdessen wurde die Diagnose des Röntgenarztes unhinterfragt übernommen, was weitere fatale Weichenstellungen zur Folge hatte, bis hin zur Eröffnung des Brustkorbs.

4) Jede Diagnostik muss sich an ihren Konsequenzen messen lassen. Selbst wenn ein metastasierter Lungentumor im PET-CT hätte gesichert werden können, hätte dies für den Patienten keine therapeutischen Konsequenzen gehabt, weil ein metastasierter Lungentumor nicht mehr heilbar ist. Vielmehr hätte auf weitere Eingriffe verzichtet und eine allein auf das Wohlbefinden des Patienten zielende (palliative) Behandlung mit dem Patienten und seinen Angehörigen besprochen werden müssen.

Unabweisbar sind die Fragen, die dieser verhängnisvolle Krankheitsverlauf aufwirft. Fragen nach der Verantwortung für den Behandlungsprozess, nach seiner Organisation und Strukturierung:

a) In einer zentralen Notaufnahme und im Betrieb einer Station muss sichergestellt sein, dass die Behandlung der Patienten sich nicht nach der Reihenfolge ihres Eintreffens richtet, sondern nach der Dringlichkeit ihrer Beschwerden und Symptome. Die zumeist jungen und wenig erfahrenen Ärztinnen und Ärzte, die hier Dienst tun, müssen jederzeit die Möglichkeit haben, einen erfahrenen Kollegen hinzuzuziehen. Bei unklaren Krankheitsbildern haben Fachärzte darüber zu entscheiden, welcher Abteilung ein Patient zuzuordnen ist und bei hohem Patientenaufkommen sind zusätzliche Ärzte und Pflegekräfte bereitzustellen.

Dokumentationswut erstickt Patientenwohl

b) Der eingeschlagene Behandlungsprozess hat sich einerseits an einem leitliniengerechten Vorgehen zu orientieren, andererseits aber auch an dessen Zumutbarkeit, die aufgrund von Alter, Vorerkrankungen, Wünschen und Ängsten des Kranken eingeschränkt sein kann. Es muss bezweifelt werden, ob die in Rede stehende Klinik diesen Ansprüchen gerecht wird.

c) Das umfangreiche Konvolut der Krankengeschichte des Herrn R. illustriert eine verbreitete, nicht zu rechtfertigende Dokumentationswut, die dazu führt, dass die inhaltliche Arbeit von Ärzten und Pflegekräften leidet und der Patient das Nachsehen hat. Diesem Wahn muss Einhalt geboten werden, weil er sinnvoller einzusetzende Ressourcen bindet. Er optimiert zwar die Leistungsabrechnung der Klinik und sichert die Behandelnden ab, dem Patientenwohl dient er nur begrenzt.

d) Die vorliegende Krankengeschichte steht für eine Medizin, die ernste systemische Mängel aufweist und gerade bei komplexen Krankheitsverläufen zulasten des Patienten geht. Mitverantwortlich sind die kostenkalkulierten Fallpauschalen (DRGs), die die Krankenhäuser, auch Universitätskliniken, bei Strafe des Nicht-Überlebens dazu zwingen, ihre Strukturen und Prozesse der Wirtschaftlichkeit zu unterwerfen, im Klartext: die finanzielle Gewinnzone zu erreichen. Der sich auf diese Weise entfaltende ökonomische Druck durchsetzt heute den Organismus jeder Klinik bis in ihre letzte Faser und hat das Patientenwohl längst an die Peripherie dessen gedrängt, was gute Behandlungsqualität ausmacht.

Fazit: Was auch immer unter guter medizinischer Versorgungs- und Behandlungsqualität verstanden wird – es gibt mehr als 100 Definitionen –, in diesem Krankheitsverlauf ist sie nicht auszumachen. Es mangelt in dem geschilderten Fall an angemessenen Vorgehensweisen, an medizinischer Entscheidungskompetenz und an Verantwortungsbereitschaft: Qualitätsmerkmalen, die gerade für Universitätskliniken, denen Vorbildfunktion und eine Vorreiterrolle zukommt, eine Selbstverständlichkeit sein sollten.

Die Autoren: Michael de Ridder ist Arzt für Innere Medizin und war Chefarzt am Urban-Klinikum in Berlin. Lothar Weißbach ist Urologe und war ebenfalls Chefarzt am Urban-Klinikum sowie Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft.

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