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Der Berliner Kneipenchor bei der Probe in Friedrichshain.

© Kai-Uwe Heinrich

Forschung über das Singen: Gemeinschaft und Verführung

Gemeinsamer Gesang erzeugt kollektive Emotionen. Wer im Chor singt, kann soziale Unsicherheiten überwinden. Doch immer wieder wurden Lieder auch politisch instrumentalisiert.

Ein Sommertag in Rheinsberg. „Das Singen macht ganz viel mit dem Menschen“, sagt Juliane Brauer. Es gibt kaum einen Ort im Umkreis von Berlin, an den dieser Satz derzeit besser passen würde: Gerade geht hier das Internationale Festival junger Opernsänger im Rahmen der „Kammeroper Schloss Rheinsberg“ über verschiedene Bühnen. Auch die Teilnehmer der von Körber-, Schering-, Hertie- und Deutscher-Bank-Stiftung geförderten Summer School „Lernen-Emotionen-Musik“, die sich auf Initiative des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung für eine Woche in einem idyllisch am See gelegenen Hotel treffen, kennen die Wirkungen des Musizierens oft aus eigener beruflicher Erfahrung. In Brauers Workshop „Zur emotionalen Kraft des gemeinsamen Singens“ erarbeiten sie gerade verschiedene Fassungen von „Wenn die bunten Fahnen weh’n“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Mit dem Resultat, dass das Arbeiterlied sich auch als pathosgesättigter Kirchenchoral interpretieren lässt.

Beide Lieder haben ihren festen Platz in einem Repertoire, dem das wissenschaftliche Interesse Brauers gilt: Die Historikerin und Musikwissenschaftlerin, die am MPI im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ tätig ist, hat Liederbücher, Unterrichtsdokumentationen und Dokumentarfilme aus mehreren Jahrzehnten DDR-Geschichte gesichtet, um sich über das Gesangsrepertoire von Kindern und Jugendlichen in Schulen und Jugendorganisationen Klarheit zu verschaffen.

Emotionale Umerziehung versus Aversion gegen den Gruppengesang

Im Unterschied zu den westlichen Besatzungszonen sei in der sowjetischen die Idee der „Vergemeinschaftung“ durch Gesang schon direkt nach dem Krieg zielstrebig verfolgt worden, sagt Brauer. Nicht zuletzt, um einer traumatisierten Generation zu neuen gemeinsamen Zielen zu verhelfen. „Das Singen war Teil der emotionalen Umerziehung, man wollte eine enthusiastische, vorwärts drängende Jugend haben.“ Fast fieberhaft seien vor allem in den ersten Jahren nach dem Krieg neue Lieder produziert worden, die etwa beim Deutschlandtreffen der Jugend 1950 in Berlin von den Massen gesungen wurden. „Fröhlich sein und singen, stolz das rote Halstuch tragen“: Es war auch eine „Erziehung der Gefühle“, die mit dem gemeinschaftlichen Singen intendiert wurde.

Historisch lässt sich die Idee der ganzheitlichen Menschenbildung durch gemeinsames Singen in Deutschland bis in die Wandervogelbewegung und die Jugendmusikbewegung Ende der 20er Jahre zurückverfolgen. „Musik war in diesem Konzept die Mitte, der Schlüssel, um das tiefste Innere des Menschen zu erreichen und zu formen“, erklärt die Historikerin Brauer. Eine Idee, die ihre Wurzeln nicht allein in Volks-, Wander- und Kinderliedern hatte, sondern auch untrennbar mit dem Militär verbunden ist. Und die in der NS-Zeit in den singenden Kohorten der Hitlerjugend ihre verhängnisvolle praktische Anwendung fand. Was in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte wiederum in vielen eine heftige Aversion gegen Gruppengesang auslöste. „Niemand hat gesagt, dass Singen notwendig sei“, befand damals etwa Theodor W. Adorno.

Im KZ Sachsenhausen war Singen eine Überlebensstrategie

Grund zu dieser Distanzierung ist ein tiefes Misstrauen gegenüber den Gefühlen, denen Singen nicht nur zum Ausdruck verhilft, sondern die es als körperliche Praktik auch produziert. Man könnte Lieder als eine der Gefühlsäußerungen sehen, die der britische Kulturanthropologe William Reddy als „Emotives“ bezeichnet, „Werkzeuge auf dem Weg zu einem erstrebenswerten Zustand“. Ian Cross, Direktor des Centre for Music and Science in Cambridge sieht Musik als komplementär zur Sprache. „Sie ist ein Medium, das optimal ist für Situationen sozialer Unsicherheit, exzellent zur Koordination von Haltungen und Verhalten geeignet.“

„Musikwissenschaftler unterhalten sich über Musik oft so, als sei es möglich, den Kontext auszublenden“, kritisiert Brauer. „Die Wirkungsmacht von Liedern liegt dabei nicht allein in ihnen selbst, sondern in den Kontexten, in die sie eingebunden sind.“ Als extremes Beispiel dafür, dass der Kontext bestimmt, ob ein Musikstück glücklich macht oder zur Folter wird, können die Erfahrungen aus Konzentrationslagern gelten: Im KZ Sachsenhausen war Singen eine Überlebensstrategie. Liederbücher waren im Umlauf. Am selben Ort wurde aber auch ein professioneller Sänger von einem SS-Oberscharführer gezwungen, aus dem Stand das „Ave Maria“ von Franz Schubert zu singen.

Eine universelle, biologisch verankerte Fähigkeit

Wie lange braucht ein Mensch nach einem solchen Erlebnis, bis er ein bestimmtes Musikstück wieder hören oder gar singen kann? Eine Frage, die auch deshalb in die Summer School passte, weil hier keine strenge Trennungslinie zwischen Musikhören und Musikmachen errichtet wurde. Ian Cross wandte sich dagegen, das klassische Konzert als einziges Paradigma zu verwenden, das Singen in Fußballstadien und Kirchen oder die spontane Gründung von „Garagen“-Bands aber auszublenden. „Musik ist keine autonome Domäne der Virtuosität und des ästhetischen Genusses, sie ist ein starker Vermittler komplexer sozialer Interaktionen.“

Und die Fähigkeit dazu wird uns gewissermaßen schon an der Wiege gesungen. „Singen ist eine universelle, biologisch verankerte Fähigkeit des Menschen“, betonte Stefanie Stadler Elmer, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich. Hören, Bewegen, Stimme, Sprechen, Singen, das sei in der Entwicklung eines Kindes überhaupt nicht voneinander zu trennen. Als sie vor einigen Jahrzehnten begann, den Gesang zwei- bis neunjähriger Kinder mit physikalischen Methoden zu analysieren, sei das zunächst weitgehend auf Unverständnis gestoßen: Kleine Kinder und Singen als Gegenstand seriöser Forschung!

"Richtiges" und "falsches" Singen? Ganz falsch!

Inzwischen ist das Interesse an frühkindlicher Bildung deutlich gestiegen, nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Es ist allgemein anerkannt, dass Singen und Musikhören die Gehörentwicklung beeinflussen. „Dafür ist die Zeit vom letzten Schwangerschaftsdrittel bis zu einem Alter von etwa zweieinhalb Jahren entscheidend“, sagt Stadler Elmer. Dazu kommt, dass das Singen das Sprechen fördern kann, unter anderem weil es bei einem Lied viele Wiederholungen, einen klaren Rhythmus und eine andere Art des Umgangs mit dem Text gibt. Und weil die ganze Gruppe gleichzeitig sprachlich aktiv sein kann: „Zwei können zu gleicher Zeit singen, aber nicht zu gleicher Zeit reden“, sagt das Sprichwort.

„Jedes Kind würde singen wollen, wenn ...“: Stadler Elmer kritisiert, dass der Elan schon bei kleinen Kinder oft gebremst werde, vor allem durch vorschnelle Wertungen: „Wir sollten unsere Kriterien von ‚richtig’ und ‚falsch’ überdenken. Typischerweise wird in der westlichen Kultur überschätzt, dass jemand den Ton genau hält, dabei sind beim Singen viele andere Dinge wichtig, zum Beispiel Ausdruck und Kreativität.“

Legt man diese Kriterien an, dann trägt womöglich auch der „Ich-kann-nicht-singen-Chor“, zu dem sich seit einiger Zeit im Berliner Radialsystem bislang sangesferne Menschen treffen, den falschen Namen. Dass er sich formierte, spricht indes für einen neuen Boom des gemeinschaftlichen Singens. Trotz ideologischer und pädagogischer Altlasten. 2000 Chöre soll es derzeit allein in der Hauptstadt geben.

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