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Strahl der Erkenntnis. Die moderne Naturwissenschaft vermittelt faszinierende Einsichten – unfehlbar ist sie nicht. Foto: Jan-Peter Kasper/dpa

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Forschung und Zeitgeist: Selbstbegrenzung und Selbstdistanz

Was die Wissenschaften in Zeiten des Populismus tun müssen, um vertrauenswürdig zu bleiben.

„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ So unzweideutig steht es im Artikel 5 des Grundgesetzes. Doch was sich wie eine Naturgegebenheit ausnimmt, ist vielmehr eine Aufgabe: Wissenschaftsfreiheit entsteht aus jener Verantwortung, die wir für sie zu übernehmen bereit sind. Und noch vor Kurzem hätte man sich schwerlich ausmalen können, in welchem Maße herausfordernd geworden ist, was hierzulande als Grundrecht gewährleistet ist.

Man hätte meinen mögen, Wissenschaftsfeindlichkeit und populistischer Anti-Intellektualismus liefen als Rauschen öffentlicher Kommunikation nebenher mit und eine Leugnung des menschengemachten Klimawandels greife kaum über konventikelhafte Zirkel hinaus. Doch längst sieht man sich eines Schlechteren belehrt. Wahn und Lüge, vulgärer Zynismus, nacktes Machtkalkül und unverantwortliche Simplifizierung beweisen erneut ihre Geschichtsmächtigkeit. Auch gegenüber der Wissenschaft und ihrer Freiheit, und nicht nur – besonders bizarr – in den USA, sondern auch etwa in der Türkei oder in Ungarn und damit inmitten der Europäischen Union.

Freie Wissenschaft ist verdächtig

Den Autokraten und Populisten, auch in der Bundesrepublik, wird freie Wissenschaft zum Objekt von Insinuation und Verdächtigmachung. Massiv verbreiten sie Expertenmisstrauen, der Austausch von Argumenten als Verständigungsbasis offener Gesellschaften wird aufgekündigt. Populistische Vereinfachungen und autokratische Durchgriffsideologien verheißen, den Zumutungen der modernen Welt schadlos entkommen zu können. Deswegen machen sie den sachlichen Diskurs ebenso verächtlich wie methodische Wahrheitssuche und die Begründungsbedürftigkeit von Geltungsansprüchen.

Übrig bliebe die Ordnung der alternative facts: Was in ihr gilt, hängt vom Herrschaftswillen des jeweiligen Machthabers ab. An die Stelle des Sachverhaltsbezuges träte ein Machtbezug. Wer sich dem Machtanspruch beugt, sage die Wahrheit, alle andern seien Lügner. Wahrheit wird zur Funktion von Macht.

Gegen solche tektonischen Verschiebungen der politischen Kommunikation und für die Freiheit von Forschung und Lehre in pluralistischen Gesellschaften müssen die Wissenschaften selbst streiten. Dabei können sie allein erfolgreich sein, wenn sie ihren eigenen Prinzipien folgen. Sie dürfen also nicht umgekehrt die Legitimität von Macht als eine Funktion von Wahrheit zu bestimmen suchen.

Moderne Forschung ist pluralistisch. Sie erzeugt keine Gewissheiten, sondern methodisch verlässliches Wissen. Sie sagt, was der Fall ist. Sie kann nicht sagen, was alternativlos der Fall sein sollte. So sehr daher Demokratie wissenschaftlicher Informierung bedarf, so sehr ist sie mehr als bloß die Exekutierung von Forschungsergebnissen. Schon Hannah Arendt wusste, dass „vom Standpunkt der Politik aus gesehen“ der technokratische Sachzwang „despotisch“ ist.

Selbstkritisch. Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Mediävist Peter Strohschneider, spricht am 19. März 2013 in Berlin während der Verleihung des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises.
Selbstkritisch. Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Mediävist Peter Strohschneider, spricht am 19. März 2013 in Berlin während der Verleihung des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises.

© Sören Stache/ dpa

Freilich: Im Widerspruch gegen populistische Wissenschaftsfeindlichkeit profiliert sich eine Auffassung neu, welche die demokratischen Prinzipien unterläuft. Ihre Parole (so Kathrin Zinkant in der „Süddeutschen Zeitung“) lautet „Für alternativlose Fakten, für wissenschaftliche Evidenz, für Wahrheit in der Politik“. Dies aber ist Szientokratie: Sie verwechselt unzweideutige Fakten mit ambivalenten politischen Folgerungen; sie verkennt, dass keineswegs für alle dasselbe evident ist; sie sieht politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert.

Doch in den Streit für die pluralistische Moderne und gegen vulgäre Forschungsfeinde können Studenten, Wissenschaftlerinnen, Forscher allein dann eintreten, wenn sie sich nicht als Instanz des Wahrheitsbesitzes verstehen, sondern als diejenige der rationalen, methodischen Suche nach Wahrheit. Wissenschaftliches Wissen steht unter Revisionsvorbehalt, allein dann ist ja an Erkenntnisfortschritte zu denken. Es muss kollektiv bindende Entscheidungen zwar informieren, kann sie aber nicht selbst treffen.

Und allein wenn sie sich in dieser Weise ernst nehmen, können die Wissenschaften ihr Teil dazu beitragen, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge auch in Zukunft auf Sachfragen bezogen wird anstatt auf Machtfragen.

Es ist dies eine entscheidende Verantwortung moderner Wissenschaften. Ihr können sie nur gerecht werden, wenn sie auch mit sich selbst verantwortlich umgehen. Damit ist ein sehr weites Feld angesprochen, von der Qualität des Studiums bis zur Chancengleichheit. Gewiss aber gehört zweierlei zu verantwortlicher Wissenschaft: skrupulös sorgfältige Erkenntnisgewinnung und seriöse Leistungsversprechungen gegenüber der Gesellschaft.

Massenproduktion von Wissen schadet der Qualität

„Gute wissenschaftliche Praxis“ ist ein komplexes Problembündel heutiger Wissenschaft. Zu ihm gehören Plagiat und Fälschung, Autorschafts- und Zitierungsfragen, aber auch laxe und überhastete Forschungsweisen und zudem all das, was als Krise der Replizierbarkeit empirischer Forschung mit breiter, auch öffentlicher Aufmerksamkeit diskutiert wird.

Dabei geht es um Standards wie um Anstand: Was sich von selbst verstehen sollte, ohne es doch immer zu tun, wird formal reguliert und prozeduralisiert. Das ist notwendig und aller Anstrengung wert. Es eröffnet aber auch neue Felder der Auseinandersetzung. Ein Beispiel nur: Der Anonymitätsschutz des Whistleblowing ist wichtig, weil er Hierarchieschranken zu durchbrechen erlaubt. Aber gegen den Missbrauch für Insinuation und Denunziation ist er nicht gefeit.

Auch das, was inzwischen „Reproduktionskrise“ heißt, ist Anlass zu ernster Sorge, selbst wenn Nicht-Replizierbarkeit eines Resultats dieses weder widerlegt noch immer schlechte Wissenschaft beweist. Es zeigt nämlich ein Qualitätsproblem von Forschung an, und für dieses gibt es neben individuellem Fehlverhalten strukturelle Gründe. Dazu gehört etwa das Gewicht von quantitativ parametrisierenden Steuerungs-, Bewertungs- und Gratifikationssystemen, das sich längst auf die Forschung als steigender Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck auswirkt. Auch werden Trennlinien zwischen wissenschaftlichem Ideenwettbewerb, Konkurrenz um Finanzmittel und dem Marketing von Wissenschaftseinrichtungen unscharf. Die skrupulöse Sorgfalt in der Forschung muss eher gegen diesen Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck durchgesetzt werden, als dass sie von ihm befördert würde. Allen, die für die Wissenschaften Verantwortung tragen, muss das zu denken geben: im Publikationswesen, bei Personalfragen und auch bei Finanzierungsentscheidungen.

Das Vertrauen in die Forschung ist in Gefahr

Dieses Qualitätsproblem der Forschung ist gravierend. Es ist zugleich ein Vertrauensproblem moderner Wissenschaft überhaupt. Die aber kann ohne die Glaubwürdigkeit der Forschenden und ohne die Vertrauenswürdigkeit des Wissenschaftssystems insgesamt nicht funktionieren – zu komplex ist ihr Wissen, zu weltverändernd seine Kraft.

Das populistische Expertenbashing untergräbt dieses Vertrauen gezielt. Deswegen muss es zurückgewiesen werden. Doch machen wir es ihm in mancher Hinsicht auch zu leicht – wegen besagter Fälle kritikwürdiger Forschungspraxis, aber auch, weil wir aufs Ganze gesehen mehr verheißen, als wir erfüllen können.

Diese Vollmundigkeit liegt freilich nahe: Ansprüche an die direkte und kurzfristige Effektivität wissenschaftlichen Wissens wachsen ebenso wie die Härte der Verteilungskämpfe. Dies lädt geradewegs dazu ein, immer Größeres zu versprechen und die Nebenwirkungen kleinzureden. Allzu oft wurde die Energiefrage schon abschließend technisch gelöst, und der Segen individualisierter Medizin wird so beredt beschrieben, wie die sozioökonomischen Verteilungsprobleme beschwiegen werden, mit denen sie einhergehen wird.

Solche Verheißungen sind riskant. Sie bergen die Gefahr struktureller Selbstüberforderung von Wissenschaft. Sie wecken Erlösungshoffnungen, die eher enttäuscht werden. Das gesellschaftliche Ansehen von Wissenschaft wird so jedoch nicht gesteigert, sondern gemindert. Unerfüllte, gar unerfüllbare Verheißungen erzeugen Glaubwürdigkeitslücken.

Wissenschaft bedeutet nicht absolute Gewissheit

Die beiden Beispiele sind Aspekte einer kritischen Diagnose des Wissenschaftssystems. Ihr müssen wir uns ernsthaft stellen – und in reflektiertem Selbstbewusstsein können wir dies auch.

Wissenschaft stört etabliertes Wissen durch neue Erkenntnis. Sie kann daher nicht funktionieren ohne die Redlichkeit derer, die sie betreiben. Diese Redlichkeit ergibt sich als Verpflichtung auf die Integrität von Forschung aus der Freiheit, die ihr garantiert ist; und sie verbindet sich mit einer wissenschaftlichen Haltung, die entscheidend durch Selbstdistanz geprägt ist.

Zu dieser Haltung gehört Ehrlichkeit und Irritierbarkeit durch die Welt und das, was andere über sie wissen. Und sie erfordert die Fähigkeit, von sich selbst auch Abstand nehmen zu können: also die eigene Expertise nicht schon für das Ganze von Wissenschaft zu halten; die methodische Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens nicht mit absoluter Gewissheit zu verwechseln und zu wissen, dass Forschung zwar gesellschaftliche und politische Diskurse informieren muss, aber nicht an ihre Stelle treten kann. Szientokratie wäre der Kollaps dieser Fähigkeit zur Distanznahme.

Daneben braucht es Bedingungen, die solche Sorgfalt und Redlichkeit, diese Haltung der Irritationsbereitschaft und Selbstdistanzierung begünstigen. Damit sind wir bei der sozialen Organisierung der Wissenschaften und bei praktischen, ja selbst politischen Fragen. An der Grundfinanzierung der Universitäten etwa hängt die Frage, ob es hier wie in der außeruniversitären Forschung Räume gewährten Vertrauens gibt, die im Interesse bester Forschung freigehalten sind vom steten Finanzierungswettbewerb und von jener ununterbrochenen accountability, die sich längst zu einer Form organisierten Misstrauens entwickelt hat.

Zu oft wird Masse mit Klasse verwechselt

Viele Steuerungsinstrumente der Wissenschaft haben den schädlichen Nebeneffekt, dass das Tempo von Forschungsprozessen und die Größe von Forschungseinheiten geradezu systematisch mit der Qualität von Forschung verwechselt werden. Oder auch der Ort einer Publikation, der ja kein Sach-, sondern ein Autoritätsargument (wie in der mittelalterlichen Wissenschaft) ist.

Womöglich hat solches mit einer Überproduktionskrise von Wissenschaft zu tun. Jedenfalls hat das Publizieren als wichtigstes Ziel von Forschung eine derartige Dominanz erlangt, dass wir uns anscheinend allein mit der Verfeinerung jener Techniken zu behelfen wissen – vom Abstract bis zum Review-Artikel, von der Bibliometrie bis hin zum Text Mining –, die die Lektüre dessen gerade ersparen, was da publiziert wurde.

Gerecht werden können die Wissenschaften dem Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung in Zeiten des populistischen Anti-Intellektualismus und autokratischer Wissenschaftsfeindschaft nur mit Selbstbegrenzung und Selbstdistanz, mit Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Auf diese Haltung kommt es, wie in der pluralistischen Gesellschaft und in der konstitutionellen Demokratie, auch in den Wissenschaften an. Es lohnt daher alle selbstkritische Anstrengung für eine Wissenschaft, die gesellschaftliches und politisches Vertrauen verdient.

Der Autor ist Professor für Germanistische Mediävistik und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Peter Strohschneider

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