zum Hauptinhalt

Fossilien-Fund: Der zusammengesetzte Vorfahr

Zwei Millionen Jahre alte Hominiden haben Merkmale von Schimpansen und modernen Menschen. Einige Anthropologen halten sie für unsere direkten Vorfahren.

Für den südafrikanischen Anthropologen Lee Berger ist die Sache klar: Bei den zwei Millionen Jahre alten Skeletten aus der Malapa-Höhle nahe Johannesburg handelt es sich um unsere unmittelbaren Vorfahren. Sie knüpfen eine Verbindung zwischen den affenähnlichen Fossilien aus früheren Zeiten und den moderneren Menschenarten. Diese kompromisslose Zuordnung wollen andere Forscher zwar nicht unbedingt teilen. Beeindruckend sind die Fossilien des Australopithecus sediba aber allemal. Sie zeigen Merkmale, die die Wissenschaftler zwingen, ihre Vorstellung vom Werden des Menschen zu überdenken.

Die 2008 von Berger, seinem Sohn sowie einem Mitarbeiter gefundenen Knochen gleichen einem Mosaik aus Alt und Neu. Einige Eigenschaften erinnern an die Skelette unserer frühen Vorfahren, die vor ein paar Millionen Jahren im Kronendach des Regenwaldes zu Hause waren und dann den Boden der Savanne besiedelten. Andere Skelettteile sind zwar noch klein, lassen sich aber sonst kaum von den entsprechenden Knochen eines Menschen unterscheiden, der im 21. Jahrhundert durch Mitteleuropa läuft. Das zeigen Untersuchungen, die in einer Serie von fünf Artikeln im Fachblatt „Science“ erschienen sind (Band 333, ab Seite 1402).

Das Volumen des Gehirns eines jugendlichen Australopithecus sediba erinnert mit seinen 420 Millilitern verblüffend an das rund 400 Milliliter umfassende Organ von Schimpansen. Das Gehirn des modernen Menschen hat rund 1400 Milliliter Inhalt. Andererseits finden sich im Stirnbereich des fossilen Schädels feine Strukturen, die für den modernen Menschen typisch sind, nicht aber für Schimpansen. Das zeigt eine Analyse, die mithilfe der europäischen Röntgenstrahlungsquelle ESRF in Grenoble gemacht wurde. Obwohl der Schädel mit versteinertem Material gefüllt ist, konnten die Wissenschaftler die innere Oberfläche bis auf ein 25stel Millimeter genau vermessen. Daraus leiteten sie die äußere Form des Gehirns ab. Die widerspricht der Vorstellung einer allmählichen Vergrößerung des Hirns, die bisher als Hypothese für den Übergang von Australopithecus zu Homo galt, macht der Studienleiter Kristian Carlson von der Universität Witwatersrand deutlich.

Die Mischung aus Alt und Neu zeigt sich besonders deutlich an der Hand einer schätzungsweise 30-jährigen Australopithecus-sediba-Frau, die von Tracy Kivell vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig analysiert wurde. Demnach war das Individuum eine gute Kletterin, es konnte Äste ähnlich kräftig umklammern wie ein Schimpanse.

Andererseits sind die Fingerknochen von Australopithecus sediba ziemlich gerade, während Schimpansen leicht gekrümmte und deutlich längere Fingerknochen haben. Der Daumen der Frühmenschenfrau wiederum ist viel länger als bei einem durch die Bäume hangelnden Menschenaffen. „Er ist sogar länger als der Daumen eines modernen Menschen“, wundert sich Kivell.

Mit dieser Kombination aus relativ kurzen und geraden Fingern und einem langen, sehr beweglichen Daumen gelingt der „Präzisionsgriff“ viel besser als mit einer Hand im Schimpansen-Design. „So lässt sich ein Glas oder ein Ei sicher zwischen den Fingerspitzen halten, ohne es zu zerbrechen oder fallen zu lassen“, beschreibt Kivell den Vorteil dieser Anatomie.

Mit seinen Händen war der Australopithecus sediba sehr geschickt - lesen Sie mehr auf Seite 2.

Mit dem Präzisionsgriff kann man feine Instrumente bedienen und einen Schlüssel im Schloss drehen. Wer einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger geschickt hält, kann so auch Buchstaben schreiben oder schöne Zeichnungen machen. Diese Entwicklung der Hand war nach Meinung aller Frühmenschenforscher ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen.

Tracy Kivell ist noch etwas anderes aufgefallen: „Die Hand von Australopithecus sediba konnte offensichtlich viel besser einfache Steinwerkzeuge herstellen als die Hand von Homo habilis.“ Die Übersetzung von Homo habilis lautet „Geschickter Mensch“ und bezieht sich auf einige Handknochen und primitive Steinwerkzeuge, die in der Olduvai-Schlucht im Norden Tansanias gefunden wurden.

Weil der Werkzeuggebrauch für Wissenschaftler jedoch als entscheidender Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen gilt, wurde der zur gleichen Zeit lebende Homo habilis zu den nächsten Verwandten des modernen Menschen Homo sapiens gezählt, während ein Australopithecus mit kleinerem Gehirn und anderen „Affen-ähnlichen“ Eigenschaften nur in die weitere Verwandtschaft gehört.

Steinwerkzeuge wurden allerdings bereits vor 2,6 Millionen Jahren und damit deutlich früher benutzt. Auch aus dieser Epoche gibt es mit dem Homo rudolfensis einen geeigneten Werkzeugmacher-Menschen, von dem bisher aber noch kein Handknochen identifiziert wurde. Die geschickte Werkzeugmacher-Hand des Australopithecus sediba lässt den Stammbaum des Menschen zweifelhaft erscheinen.

Der Frühmenschenforscher Ottmar Kullmer vom Senckenberg-Forschungsinstitut in Frankfurt am Main stört sich daran wenig: „Evolution funktioniert ohnehin nicht so, dass sich aus einer Kletterhand unmittelbar eine Werkzeugmacher-Hand entwickelt.“ Normalerweise ändert sich hier eine Eigenschaft und dort ein Knochen. Daher tauchen immer wieder Individuen mit einem Mosaik von alten und neuen Eigenschaften wie Australopithecus sediba auf. Sie zeigen teilweise fortschrittlichere Merkmale als die Fossilien aus der Malapa-Höhle. So war das Gehirn von Homo habilis und Homo rudolfensis jeweils deutlich größer als das Denkorgan von Australopithecus sediba.

Am Ende entsteht ein Durcheinander von Mosaik-Arten, das zu einem klassischen Stammbaum der Menschheitsentwicklung kaum noch passt. „Die Entwicklung bis zum modernen Menschen war viel komplexer als wir uns das früher vorgestellt haben“, sagt Kullmer. „Aus dem Stammbaum des Menschen ist längst ein Stammbusch mit vielen Ästen geworden, von denen viele für die Entwicklung bis zum Homo sapiens wichtig waren.“ Australopithecus sediba sei nur ein weiterer Hinweis auf diesen Stammbusch.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Carol Ward von der Universität Missouri. Man könne die Fossilien aus der Höhle einordnen wie man will, sagte sie einer „Science“-Reporterin. „Sie sind nur Teil einer ganzen Reihe verschiedener Arten, die etwa zur gleichen Zeit lebten – einer Reihe von Versuchen, Mensch zu sein.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false