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Menschen am Sonntag. Neben Filmszenen von Leni Riefenstahl, die dem Nationalsozialismus nahestand, zeigt die Ausstellung im Louvre auch Szenen aus „Menschen am Sonntag“ von 1930 – und damit eine fröhliche, lebendige Perspektive, sagt Étienne François.

© ullstein bild

Frankreich und die NS-Geschichte: „Verführung durch Barbarei ist genuin europäisch“

Eine Deutschland-Ausstellung im Louvre wird kontrovers diskutiert. Ein Anlass, den Berliner Historiker Étienne François nach der umstrittenen These vom „deutschen Sonderweg“ zu fragen.

Die derzeit im Pariser Louvre gezeigte Kunstausstellung „Über Deutschland. 1800–1939“ hat in den deutschen Medien teils heftige Kritik als „einseitig“ und „vorurteilsbehaftet“ erfahren, was wiederum auf französischer Seite zu Erstaunen geführt hat. Der französische Historiker Étienne François gilt als einer der besten Kenner der intellektuellen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern, war in der Berliner Frankreich-Forschung vielfach engagiert. Gemeinsam mit dem Historiker Hagen Schulze (FU Berlin) hat François die dreibändige Anthologie „Deutsche Erinnerungsorte“ herausgegeben. Mit Étienne François sprach Bernhard Schulz.

Herr François, der Ausstellung „Über Deutschland. 1800–1939“ im Louvre wird von deutscher Seite vorgeworfen, sie bediene das alte Klischee, dass der Weg der deutschen Kultur von der Romantik geradewegs in den Nationalsozialismus führe. Teilen Sie diese Kritik?
Mein Eindruck war der einer faszinierenden Ausstellung, wo es ungeheuer viel zu entdecken gibt, auch für einen, der bislang glaubte, ziemlich gut vertraut zu sein mit der deutschen Geschichte und Kunst. Nehmen wir den Film von Leni Riefenstahl, aus dem ein kurzer Ausschnitt gezeigt wird. Daraus spricht in der Tat eine Faszination für die tote Ästhetik, für die schönen Formen, die Rückkehr zur Antike bis hin zur Erotik des Todes. Aber Riefenstahls Film direkt gegenübergestellt wird doch eine Passage aus „Menschen am Sonntag“ aus der gleichen Zeit. Darin hat jede Person, ob Kind oder Erwachsener, ein einzigartiges Gesicht, ist nicht austauschbar, und alle diese Menschen sind fröhlich, lebendig, beweglich.

 Étienne François (70), Historiker, war 1992 Gründungsdirektor des Berliner Centre Marc Bloch, leitete später das Frankreich-Zentrum der TU Berlin und lehrte an der FU.
Étienne François (70), Historiker, war 1992 Gründungsdirektor des Berliner Centre Marc Bloch, leitete später das Frankreich-Zentrum der TU Berlin und lehrte an der FU.

© promo

Welche Botschaft entnehmen Sie dieser Gegenüberstellung?

Man erkennt zwei Optionen, die für die Öffentlichkeit in der Weimarer Zeit offenstanden. Das war im Grunde wie Tag und Nacht oder besser, wie Tod und Leben. Das kann ich nicht als eindeutig erkennen und noch weniger als teleologisch.

Aber ist denn in der deutschen Kunst nicht doch eine sehr eigenständige Entwicklung zu erkennen, ein Sonderweg?

Nach den Umwälzungen der Französischen Revolution und der napoleonischen Epoche gehen viele Intellektuelle und Künstler auf die Suche nach einer neuen Legitimierung für Deutschland in einer total veränderten Konstellation. Man sucht sich neue Referenzen. Aber diese Referenzen sind überwiegend im Westen. Die eine ist die italienische Renaissance, die andere ist die griechische Antike, die dritte die lateinische Christenheit vor der Spaltung und nur die vierte konnte nicht westlich sein, nämlich die Suche nach den Wäldern und nach einer Aktualisierung von Tacitus. Aber das ist nur eine von vier Optionen. Und keine von diesen gewinnt, sondern sie bleiben miteinander immer in Ergänzung.

Lange Jahre hat die deutsche Geschichtswissenschaft betont, wir Deutschen hätten diesen Sonderweg beschritten, der richtige Weg jedoch sei der des Westens. Das bekannte Werk des Berliner Historikers Heinrich August Winkler, „Der lange Weg nach Westen“, deutet bereits im Titel an: Endlich sind wir angekommen.

Die angebliche Dichotomie zwischen dem deutschen Wesen und dem Westen war einer der fruchtbarsten Irrtümer der deutschen Geschichtswissenschaft. Die These des Sonderwegs hat, weil sie klar formuliert war, zu zahlreichen weiterführenden Forschungen geführt. Insofern war sie sehr produktiv. Aber sie ist das typische Beispiel einer Hypothese, die ihre Fruchtbarkeit daran erweist, dass sie, je weiter man sie verfolgt, immer fragwürdiger wird, so dass am Ende nichts mehr von ihr übrig bleibt.

Wird die Sonderwegsthese denn in Frankreich als zutreffend angesehen?

Nein. Es gibt natürlich in Frankreich das Gefühl, dass die Deutschen anders sind als die Franzosen. Das ist umgekehrt in Deutschland nicht anders. Aber diese Sonderwegsthese finde ich weder in den Arbeiten der Historiker noch in der in Frankreich sehr verbreiteten Populärwissenschaft. Was bleibt, ist die große Rätselfrage, warum das Ausrutschen in den Nationalsozialismus geschah, warum diese Diktatur entstehen konnte, die eine Diktatur mit dem Volk war, viel mehr als eine Diktatur gegen das Volk.

"Diese zwölf Jahre wurden zum negativen Gründungsmythos"

Ist der Nationalsozialismus spezifisch deutsch?

Die Verführung durch die Barbarei ist eine genuin europäische Erscheinung, die man unter anderen Vorzeichen auch in Frankreich findet, in Großbritannien, vorher in Italien oder in Spanien. Es gibt viele deutsche Historiker, die das in einem größeren Kontext sehen, bis zu dem Punkt, dass einige Historiker sagen würden, was, ihr wollt uns unser patrimoine, unser Erbe wegnehmen? Der Nationalsozialismus gehört uns, das sind wir!

Aber das NS-Regime ist nun einmal das zentrale Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte.

Mir fällt auf, dass diese zwölf Jahre in der deutschen Öffentlichkeit immer mehr zum negativen Gründungsmythos des neuen Deutschland geworden sind, mit einer Absolutheit im Negativen, die mich sehr stark an das erinnert, was die Französische Revolution für die Franzosen war und teilweise bis heute ist, nur eben im Positiven. Die Zeit vor 1933 wird durch das Prisma der Jahre 1933 bis 1945 gesehen und die Zeit danach teilweise auch, damit man sagen kann, haben wir uns wirklich davon befreit oder sind wir teilweise immer noch davon infiziert? Der Vergleich mit der Französischen Revolution bietet sich an. Die Zeit vor der Revolution führte irgendwie zu ihr hin und fand letztlich ihren Sinn eben in der Revolution, und die Zeit danach war eine Fortsetzung, Erfüllung, Ergänzung, die sich immer noch an den Kriterien der Französischen Revolution messen ließ.

Nach dem „Dritten Reich“ konnte es doch nichts anderes geben als die vollständige Abgrenzung. Das ist eben dieser „negative Gründungsmythos“ der Bundesrepublik.

Auf der Bundesebene gibt es eine massive Konzentration auf die Zeitgeschichte, auf die Nazi-Zeit und die Zeit danach, auf der Länder- und Regionalebene hingegen die lange Periode. Welche Gemeinde ist nicht stolz darauf, ihr 1000- oder gar 2000-jähriges Bestehen zu feiern? Und wenn man Regionalausstellungen sieht oder die lokalen Museen, dann wird die NS-Zeit erwähnt, aber nicht mehr zentral. Und beides ist Deutschland!

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