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Zuspruch statt Zahlen. Patienten fragen oft, wie viel Zeit sie noch haben. Nicht immer wollen sie es wirklich wissen. Foto: picture-alliance/dpa

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Wissen: „Frau Doktor, wie lange habe ich noch?“

Britische Ärzte versuchen mithilfe von Messwerten die verbleibende Lebenszeit präziser vorherzusagen

Der Gefangene leide an Prostata-Krebs und habe nur noch wenige Monate zu leben. So lautete die humanitäre Begründung, als der libysche Geheimdienstoffizier Abdelbaset Ali al-Megrahi vor zwei Jahren aus einem schottischen Gefängnis entlassen wurde. Noch lebt der Mann, der wegen der Lockerbie-Affäre inhaftiert war. „Wir wissen nicht, wie die Prognose gewonnen wurde, aber ihre Genauigkeit hätte sich wohl erhöht, hätten seine Ärzte Zugang zu einem Test gehabt, wie ihn jetzt Gwilliam und ihre Kollegen entwickelt haben“, kommentierte vor kurzem das „British Medical Journal“.

Im gleichen Heft der Fachzeitschrift hat Bridget Gwilliam von der Londoner St.-Georgs-Universität sich zusammen mit Gesundheitswissenschaftlern und Palliativmedizinern auf ein heikles Terrain gewagt. Sie möchte Ärzten eine solidere Basis für die Beantwortung der Frage geben, die Menschen im Endstadium einer schweren Krankheit quält: „Wie lange habe ich noch zu leben?“

Dass diese Frage Patienten und ihre Angehörigen bewegt und den behandelnden Ärzten immer wieder gestellt wird, belegen Studien. Besonders beschäftigt sie Menschen, die unheilbar an Krebs leiden, der zweithäufigsten Todesursache nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch für Ärzte und Pflegekräfte ist die Prognose der Krankheit wichtig, weil sie das weitere Vorgehen bestimmt. Untersuchungen zeigen, dass sie dazu neigen, den Zeitraum, der ihren Patienten noch bleibt, zu überschätzen. Psychologisch verständlich ist das schon deshalb, weil es für die Behandler bitter ist, sich mit der Niederlage abfinden zu müssen.

In ihrem Bemühen um eine Objektivierung des Themas bezogen die Wissenschaftler nun 1018 Patienten, die gerade wegen eines fortgeschrittenen und unheilbaren Krebsleidens in eine von 18 teilnehmenden Palliativstationen und Hospizen im ganzen Land verlegt worden waren, in ihre Studie ein. Bei allen Teilnehmern erhoben sie eine Reihe von Merkmalen wie Stärke der Schmerzen, Atemnot, Schluckschwierigkeiten, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, Metastasen in verschiedenen Organen und Müdigkeit. Einem Teil von ihnen nahmen sie zusätzlich Blut für Tests ab. Aus den Daten errechneten sie den Wert PiPS (für: „Prognosis in Palliative Care Study“).

Unabhängig von der Forschergruppe gaben Ärzte und Pflegekräfte, die die schwerkranken Patienten betreuten, ihre Prognose darüber ab, wie lange sie noch leben würden. Ergebnis: Wurden die Blutwerte in die Ermittlung des PiPS-Werts einbezogen, so war diese objektive Prognose merklich genauer als die, die Ärzte oder Pflegekräfte jeder für sich abgaben. Nur wenn die behandelnden Ärzte und Pflegekräfte sich auf eine gemeinsame Einschätzung einigten, konnten sie die Überlebensdauer ihrer Patienten genauso präzise auf Wochen oder Monate eingrenzen wie der PiPS-Wert.

Allerdings ermöglichte auch dieser nur bei sechs von zehn der Schwerkranken (die im Schnitt noch 34 Tage lebten) die Vorhersage, ob sie die nächsten zwei Wochen oder zwei Monate noch erleben würden. Zudem hatten zahlreiche Patienten aus den Palliativeinrichtungen die Teilnahme abgelehnt oder konnten aufgrund einer Ablehnung ihrer Ärzte nicht in die Studie einbezogen werden, was die Ergebnisse verzerren könnte.

„Von einer präzisen Prognose ist man noch weit entfernt“, sagt die Krebsspezialistin Maike de Wit vom Vivantes-Klinikum Berlin-Neukölln. Auch ausgeklügelte Tests ergäben nur Mittelwerte, die Lebensspanne sei nur begrenzt vorherzusehen. Ein Punktwert (Score) wie der von den Briten vorgestellte kann ihrer Einschätzung nach als Unterstützung nützlich sein – im Gespräch mit denjenigen Patienten, die sich von Zahlen größere Sicherheit versprechen.

Was die meisten Menschen verbindet, ist der Funken Hoffnung, der ihnen noch bleibt. „Praktisch alle Patienten sagen uns zwar, dass sie gern wissen möchten, wie lange sie noch zu leben haben. Wenn wir zu einer Antwort ansetzen, werden die meisten aber ängstlich und zucken sichtbar zurück.“ Wenn es auf das Ende zugehe, seien es oft die Angehörigen, die sich einen klaren zeitlichen Horizont erwarteten. Die Betroffenen selbst fragten in den verschiedenen Stadien der Krankheit eher aus der Hoffnung heraus, noch eine Spanne Lebenszeit zugemessen zu bekommen.

Nicht in der präzisen Prognose, sondern in der Bereitschaft zu ausführlichen, einfühlsamen Gesprächen zeige sich dann die Kunst der Krebsmediziner. Gespräche, in denen nicht allein das Wann, sondern auch das Wie des Sterbens thematisiert werde. Was die Möglichkeiten der modernen Palliativbehandlung zum Stillen von Schmerzen und Lindern von Atemnot betrifft, so können die Ärzte glücklicherweise inzwischen mit verlässlichen und positiven Fakten aufwarten.

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