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Grüne Fußgängerampel vor einem Hauptgebäude der Freien Universität Berlin.

© Wolfram Steinberg/picture alliance

Freie Universität Berlin: Diskreter Umgang mit Plagiaten

Mit einem Physik-Professor hat die Freie Universität einen Deal geschlossen: Trotz klaren Fehlverhaltens behielt er seinen Doktorgrad, weil er die FU verließ.

Wie geht die Freie Universität mit wissenschaftlichem Fehlverhalten um? Schon die Affäre um die Doktorarbeit der SPD-Politikerin Franziska Giffey wurde für die Uni zu einem Fiasko. Nachdem sie in einer ersten Plagiatsuntersuchung nur eine Rüge ausstellte, hat sie kürzlich das Verfahren neu aufgerollt – weil nicht gesichert sei, ob eine Rüge in diesem Fall überhaupt zulässig ist.

Während dieser Fall im Licht der Öffentlichkeit stand, beendete die FU nach Recherchen des Tagesspiegels einen weiteren mit einem Kuhhandel. Dieser wirft erneut die Frage auf, ob die FU solche Fälle angemessen und transparent behandelt.

Dabei geht es nicht um einen Politiker, sondern um einen mehrfach ausgezeichneten Professor, mit dem sich die Universität lange schmückte. Gernot Melzer (Name von der Redaktion geändert) erhielt vor mehreren Jahren einen renommierten Preis der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin, laut einer FU-Mitteilung gehörte der Physiker einmal „zum Kreis der vielversprechenden Nachwuchswissenschaftler in Berlin“. Der Physiker spielte auch eine maßgebliche Rolle in einem Labor, das die FU und das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) zusammen eröffneten.

Verdacht auf einer Webseite zur Diskussion von Ergebnissen

Entsprechende Meldungen findet bis heute, wer im Internet nach dem Forscher sucht. Dabei hat sich die wissenschaftliche Einschätzung der Arbeit von Melzer – der auch einen mit 1,5 Millionen Euro dotierten „Starting Grant“ des Europäischen Forschungsrats für seine Forschung erhielt und von der Helmholtz-Gemeinschaft noch eine Viertelmillion dazu bekam – inzwischen erheblich gewandelt.

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Vor bereits rund vier Jahren ging auf der Forschungs-Diskussionswebseite „Pubpeer“ ein Beitrag ein, dem zufolge es „erhebliche Probleme“ mit Daten in einem Artikel gebe, den der Physiker mit Kollegen in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlicht hat. Ein Teil der Daten sei offenbar erfunden und kopiert worden. Unabhängig davon, ob dies am Ende für die Interpretation der Ergebnisse relevant ist, würde dies „die wissenschaftliche Ethik in ihrem Kern verletzen“.

Schon 2012 hatte der niederländische Chemiker Frank de Groot von der Universität Utrecht Kritik an dem Artikel geäußert – wie auch andere Kollegen. Seiner Interpretation nach zeigten die Daten aus der Veröffentlichung von Melzer überwiegend experimentelle Probleme und keinen neuen, interessanten Mechanismus, sagt de Groot dem Tagesspiegel.

Ursprünglich habe er bei dem Artikel Koautor sein sollen, später sei er von der Autorenliste gestrichen worden – wohl, weil seine Interpretation der Ergebnisse anders gewesen sei. Die Manipulation der Daten sei eindeutig beabsichtigt gewesen, sagt de Groot. Sie sei aber für die Interpretation am Ende nicht entscheidend gewesen.

Das Bild zeigt das Rundgebäude eines Elektronenspeicherrings.
Zum Helmholtz-Zentrum Berlin gehört auch der Speicherring BESSY II in Adlershof.

© promo

Nachdem das HZB von den Unregelmäßigkeiten erfuhr, richtete es eine Untersuchungskommission ein, die nach Auskunft einer Sprecherin von einem hochangesehenen externen Wissenschaftler geleitet wurde. Es seien Nachmessungen veranlasst worden, nach denen die angeblichen Ergebnisse nicht bestätigt werden konnten. Der Artikel wurde zurückgezogen.

Im Rahmen dieser und weiterer interner Untersuchungen habe das HZB interne Berichte und weitere Publikationen überprüft, bei denen der FU-Physiker als korrespondierender Autor beteiligt war, „wobei weitere Unkorrektheiten in diesen wissenschaftlichen Arbeiten identifiziert wurden“, erklärt die Sprecherin.

Pflicht-Kurse zur guten wissenschaftlichen Praxis

Insgesamt seien nun zwei Publikationen zurückgezogen worden, eine weitere teilweise, und eine sei mit einem Warnhinweis versehen worden. Die Kontrollmechanismen hätten gegriffen, erklärt das HZB. Es habe Aufforderungen zur Korrektur beziehungsweise zum Widerruf von Publikationen gegeben, Zuwendungsgeber und Kooperationspartner seien informiert und arbeitsrechtliche Konsequenzen eingeleitet worden.

Melzer habe das HZB 2018 verlassen. Seit 2019 sei es zudem für alle Promovierenden am HZB Pflicht, einen Kurs zur „guten wissenschaftlichen Praxis“ zu besuchen, schreibt die Sprecherin.

[Lesen Sie auch unsere aktuelle Berichterstattung zum prominentesten Plagiatsfall an der Freien Universität: Appell, Giffeys Arbeit diesmal genauer zu untersuchen und "Ich trete in Berlin an, auf jeden Fall, egal was passiert"]

Wie nun verhielt sich die FU? Die Uni habe im Januar 2017 von den Vorwürfen erfahren, erklärt ein Sprecher. Im Juni 2017 habe eine Untersuchungskommission wissenschaftliches Fehlverhalten in dem besagten Artikel sowie in einer weiteren Publikation in einem gleichfalls sehr angesehenen Fachmagazin festgestellt.

„In der Begründung der Rücknahme wurden Datenmanipulationen und somit wissenschaftliches Fehlverhalten eingeräumt“, erklärt die FU. Der Physiker sei dann von der Betreuung von Abschlussarbeiten entbunden worden, für seine Mitarbeiter seien alternative Betreuungsverhältnisse geschaffen worden.

Es folgte ein inzwischen beendetes Disziplinarverfahren – „wegen angeblicher Fehler in wissenschaftlichen Veröffentlichungen“, erklärte der Anwalt von Melzer. Die Vorwürfe seien „im Wesentlichen nicht bestätigt“ worden, erklärte er. Die FU wollte aus Datenschutzgründen hierzu keine Auskunft geben.

Textübernahmen in Überblickskapiteln der Dissertation

Doch damit hörten die Probleme noch nicht auf. Im September 2017 kam der Verdacht auf, dass der Physikprofessor in seiner mit Bestnote bewerteten Dissertation plagiiert hatte: Diese enthält mehrere in Fachzeitschriften veröffentlichte Aufsätze – bei denen kein Fehlverhalten gefunden wurde – sowie zusätzliche Übersichtskapitel, in denen sich nicht ausreichend kenntlich gemachte Textübernahmen fanden.

Ein FU-Gremium bestätigte den Plagiatsverdacht später, „sodass das Präsidium der Freien Universität auf Grundlage dieser Bewertung den Doktorgrad im Januar 2019 entzog“, wie der Sprecher erklärt.

Doch Melzer klagte vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Sein Anwalt brachte vor, dass die Arbeit – die einleitenden Kapitel weggedacht – uneingeschränkt den inhaltlichen Anforderungen an eine beachtliche wissenschaftliche Leistung genüge. Auch habe ein Betreuer der Arbeit argumentiert, man könne bei der Einführung „das Rad nicht neu erfinden“ – er fühle sich nicht getäuscht. Ein Gutachter habe fehlende Zitate als Flüchtigkeitsfehler angesehen, ein anderer hätte bei Kenntnis der Vorwürfe die Arbeit aber nicht akzeptiert.

Ein Holzhammer, wie er bei Gericht zum Einsatz kommt, liegt auf einer Computertastatur.
Vor Gericht hatte der Titelentzug durch die Freie Universität keinen Bestand, sie ging aber auch nicht in Revision.

© imago/STPP

Die zuständige Kammer erklärte den Beteiligten im Prozess laut einem Gerichtssprecher, dass „im Hinblick auf die unbestrittene Bedeutung von entscheidenden Teilen der Arbeit Zweifel an der Einschätzung der Hochschule bestünden, wonach die Arbeit qualitativ durch die Täuschung geprägt sei“.

Wie in anderen Plagiatsfällen sei also unklar, ob die Arbeit nicht trotzdem zur Anerkennung der Doktorwürde ausreiche. „Die beanstandeten Stellen prägen weder quantitativ noch qualitativ noch in der Gesamtschau die Arbeit“, erklärt der Anwalt des Physikers. „Die wissenschaftliche Leistung ist unbestritten.“

Die FU und der Physiker schließen einen Vergleich

Es kam vor Gericht zu einem Kuhhandel: FU und Melzer schlossen einen Vergleich, „der vorsah, dass die Hochschule den Aberkennungsbescheid aufhebt, wenn der Kläger seine akademische Laufbahn bei der Hochschule beendet“, wie der Gerichtssprecher erklärt. Melzer durfte seinen Titel also behalten, wenn er nicht mehr an der FU arbeitet.

Er habe sich verpflichtet, aus dem Beamtenverhältnis auszuscheiden, erklärt die Universität. Von März 2018 bis zu seinem Ausscheiden zum 1. November 2020 sei er an der FU ohnehin nicht mehr aktiv tätig gewesen. Das Verfahren auf Aberkennung des Doktorgrads habe zu einer erheblichen Rufschädigung geführt, erklärt der Anwalt des Physikers – auch als Folge anonymer Schreiben an den FU-Präsidenten habe dieser erkennen müssen, „dass er trotz hervorragender Leistungen für den Wissenschaftsbereich ‚verbrannt’ war“.

Daher habe er sich „bereits vor drei Jahren für eine anderweitige Tätigkeit entschieden“ – inzwischen habe er seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis beantragt.

"Keine Grundlage für eine Promotion an einer Universität"

Dass die Uni nach der eindeutigen Empfehlung der Untersuchungskommission, den Titel abzuerkennen, vor Gericht klein beigegeben hat, kann die Physikerin Stephanie Reich nicht verstehen, bis 2019 Physik-Dekanin an der FU. Es sei kein Fall, bei dem man Kompromisse eingehen kann, kritisiert Reich: „Diese Dissertation darf keine Grundlage für eine Promotion an einer Universität sein.“

Aus ihrer Sicht seien die Plagiate zu gravierend. Ohne die Kapitel mit den Textübernahmen „bleibt keine Arbeit übrig“, sagt sie, sondern nur „ein Stapel von Artikeln“, die schon veröffentlicht worden sind.

Den Prozess hätte man ihrer Einschätzung nach daher eigentlich nicht verlieren können. „Falls doch, hätte die Universität in Revision gehen müssen.“ Außerdem habe die Universität nicht transparent gehandelt. „Es gab keine Information der wissenschaftlichen Öffentlichkeit – bis auf die Rücknahme der wissenschaftlichen Arbeiten“, sagt Reich.

[Zur Fehlerkultur in der Wissenschaft arbeitet in Berlin ein Projekt aus der Exzellenzstrategie: Offen und verantwortungsvoll forschen]

Anfang 2018 beschloss die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, dem Wissenschaftler den von ihr verliehenen Preis abzuerkennen. Auf der Homepage ist dies jedoch nur mit einer versteckten Notiz kenntlich gemacht. Die FU hat ihre Pressemitteilung zur Preisverleihung bislang nicht angepasst. Mit anderen Auszeichnungen darf sich der Physiker dagegen weiter schmücken.

Nicht über Plagiate informiert

Ein Beispiel: Die Humboldt-Universität zeichnete ihn mit anderen Preisgebern für seine Promotion mit dem „Dissertationspreis Adlershof“ aus. „Uns waren die von Ihnen geschilderten Vorwürfe bislang nicht bekannt“, erklärt ein Sprecher der HU.

Selbst der Freundeskreis des Helmholtz-Zentrums Berlin hat laut seinem Vorsitzenden Mathias Richter bislang lediglich von den zurückgezogenen Artikeln, nicht aber den Plagiaten in der Dissertation erfahren – für die Melzer ebenfalls einen Preis des Vereins erhielt.

Er besitze „leider überhaupt keine belastbaren Informationen“ über die Abläufe an der FU und vor Gericht, erklärt Richter. Würde die FU Berlin die Doktorwürde entziehen, bestünde im Vorstand Konsens darüber, Melzer auch den Preis zu entziehen und dies öffentlich zu machen, sagt er. Doch einen Entzug der Doktorwürde könnte es aufgrund des Vergleichs offenbar höchstens in einem weiteren Untersuchungsverfahren geben, wie die FU es im Fall Giffey nach viel Kritik angestoßen hat.

Gernot Melzer und sein Anwalt wollten einige weitere Fragen nicht beantworten. Melzer habe „mit Bitterkeit erkennen müssen, dass einzelne Wissenschaftler fehlerhafte Behauptungen über ihn aufstellen und möglicherweise hierfür auch Journalisten instrumentalisieren“, erklärte sein Anwalt – ohne diese Vorwürfe näher zu konkretisieren. Melzer ist inzwischen in leitender Funktion in der Privatwirtschaft tätig.

Der Europäische Forschungsrat (ERC) beschäftigt sich weiter mit dem Fall: Neben vielen anderen Artikeln habe Melzer in den Bewerbungsunterlagen auch auf zwei nun zurückgezogene Publikationen verwiesen, erklärt eine ERC-Sprecherin. „Der Fall wird entsprechend unserer internen Prozeduren überprüft.“ Bis zu fünf Jahre nach Projektende könne der ERC Zahlungen zurückverlangen oder Sanktionen verhängen.

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