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Guter Start. Von frühe Förderung hängt vieles ab.

© picture alliance / ZB

Frühkindliche Bildung: Dreijährige als Akademiker

Schon in der Kita werden Physik und Chemie gelehrt. Der Pädagoge Salman Ansari warnt davor, die kindliche Neugier mit Bildungsplänen und Initiativen wie dem "Haus der kleinen Forscher" zu ersticken.

Über drei Dinge herrscht in der Bildungsszene große Einigkeit. Erstens: Zu wenige Jugendliche interessieren sich für Naturwissenschaft und Technik. Zweitens: Die Neugier von Kleinkindern ist noch schier grenzenlos. Man sollte also, drittens, alles tun, um sie zu stillen, über die Jahre zu erhalten und immer neu anzufachen. Programme, die dem Forschergeist von Kita-Kindern Nahrung geben sollen, sind in den letzten Jahren unter beachtlicher Investition von Geist und Geld aus dem Boden geschossen, von den Bildungsplänen der Bundesländer bis zu Stiftungsinitiativen wie dem „Haus der kleinen Forscher“. „Die Initiativen wollen die natürliche Neugier der Kinder aufgreifen“, sagt Yvonne Anders, die am Fachbereich für Erziehungswissenschaft der FU den Arbeitsbereich „Frühkindliche Bildung und Erziehung“ leitet. Bei der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“, die unter anderem vom Bundesbildungsministerium, von der Helmholtz-Gemeinschaft, von McKinsey und der Siemens-Stiftung unterstützt wird, engagiert sich die Forscherin in der Zertifizierung der beteiligten Kindertagesstätten.

Man reibt sich nach alledem die Augen, wenn man auf dem Cover einer Neuerscheinung nun lesen muss: „Rettet die Neugier! Gegen die Akademisierung der Kindheit“. Salman Ansari, der Autor des Buches (Krüger Verlag 2013, 222 Seiten, 18 Euro 99), ist Chemiker, drei Jahrzehnte hat er an der Odenwald-Schule gearbeitet. Er redet und experimentiert seit Jahren in Kitas und Grundschulen mit Kindergruppen. Ist dort ausgerechnet heute die Neugier in Gefahr?

Salman erhebt schwerwiegende Vorwürfe gegen Projekte wie das „Haus der kleinen Forscher“: Dort werde „nachdrücklich die Illusion verbreitet, Bildung sei die Reduktion der Wirklichkeit, Erfahrung sei, in die Retorte zu blicken“. Salman sieht hier neben übergroßem Vertrauen gegenüber willkürlich zusammengestellten Versuchen eine „Belehrungspädagogik“ am Werk, die Kindern Fragen beantwortet, die sie selbst gar nicht gestellt haben, ihnen den direkten Zugang zur sie umgebenden Natur aber versperrt. In seiner langjährigen Arbeit habe zum Beispiel noch kein Kind gefragt „Warum ist der Himmel blau?“ oder „Können Seifenblasen auch sternförmig sein?“ – Fragen, die ihm im Zusammenhang mit Programmen zur frühkindlichen Förderung immer wieder begegneten. „Abgesehen davon, dass selbst Doktoranden naturwissenschaftlicher Studiengänge diese nicht aus dem Stegreif beantworten können, fragt man sich: Was sollen Kinder mit diesem Wissen anfangen? Wie könnte ihnen die Erkenntnis, dass Seifenblasen auch sternförmig sein könnten, in ihrer Entwicklung weiterhelfen?“

Besonders frustrierend findet es Ansari, dass er in Grundschulen immer wieder Knirpsen begegnet, die im zarten Alter von sechs oder sieben Jahren schon eine gewisse Experimentiermüdigkeit an den Tag legen. An einem heißen Sommertag wollte er mit einer Schülergruppe der Frage nachgehen, ob Luft wirklich „stehen“ kann: Mit Luft hätten sie schon so viel gemacht, sie wüssten eigentlich alles darüber, teilten ihm die Kinder mit. Parallelen zur Kritik an den Kinderläden der Nach-68er-Jahre drängen sich auf: Hatten damals nicht angeblich Kindergartenkinder angesichts der herrschenden freiheitlich-pädagogischen Ideen ihre Erzieher gefragt, ob sie „heute schon wieder“ tun müssten, „was wir wollen“? Droht nun, im Zeitalter der frühkindlichen Bildung, als höchst unerwünschter Effekt ein Überdruss an naturwissenschaftlichen Experimenten?

Ansari liebt die Versuche mit verschiedensten Materialien und Werkzeugen dabei selbst: Auf den Fotos im Buch sieht man ihn, wie er, immer umringt von einer Kinderschar, Apfelkerne zählt, Hülsenfrüchte sortiert und mit Strohhalmen ansaugt. Auch unter seiner Regie wird in Kitas und Grundschulen Wasser in verschiedenartige Gefäße geschöpft, es werden nach Herzenslust Farben auf Papptellern gemischt und im Laubwald Blätter sortiert. „Ein zentrales Anliegen meiner Arbeit mit Kindern besteht darin, ihnen zu ermöglichen, unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit durch selbstständiges und unbefangenes Handeln zu erfahren und diese mit Hilfe von individuellen Theorien bzw. Hypothesen zu interpretieren.“

Das kindliche Denken ernst nehmen, „heuristisch“ lernen, kleine Versuche aus den Fragen der Kinder heraus starten, viel mit ihnen reden: Die Anliegen, die Ansari formuliert, teilt Yvonne Anders völlig. Es sei ein großes Missverständnis, wenn man meine, Programme wie das der „Kleinen Forscher“ hätten eine Akademisierung der Frühförderung im Sinn: „Niemand will die Schule in die Kita hineintragen oder gar Freude und Spaß aus der Kindheit herausnehmen.“

Kitas sind heute weniger auf Experimente fixiert

Yvonne Anders betont aber auch, die Erfahrung der ersten Jahre habe dazu geführt, dass man inzwischen nicht mehr so stark auf Experimente fokussiere, sondern eher alltägliche Situationen nutze. Dazu fällt ihr ein Beispiel ein, das sich ähnlich auch bei Ansari findet: In der Kita gibt es Äpfel zum Nachtisch. Die Kinder fragen, wie viele Kerne so ein Apfel eigentlich habe. Die Erzieherinnen entwickeln daraus ein Projekt. „So sind die Initiativen gemeint: Es geht nicht um Faktenwissen oder um konkrete Lernziele, sondern um das Wecken von Interesse an unterschiedlichen Inhalten und um Freude an der Sache.“ Wie Ansari betont Anders, dass die positiven Wirkungen auf die sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu den Zielen gehören muss.

In der demnächst erscheinenden Expertise „Zieldimensionen naturwissenschaftlicher Bildung im Kita-Alter und ihre Messung“ ist festgehalten, dass das alles in der Begleitforschung zum „Haus der kleinen Forscher“ erfasst werden soll. Vom bayerischen Modellprogramm „Kindergarten der Zukunft“ (KiDZ) gibt es schon einige Ergebnisse. Sie zeigen nicht nur, dass die Kindergartenkinder im mathematischen und sprachlichen Bereich profitieren, sondern auch, dass die befürchteten Einbußen in Wohlbefinden und Lernfreude der Kleinen nicht eintreten. Der bisherige Stand der Forschung rechtfertige Generalangriffe auf die naturwissenschaftlich-technischen Bildungsprogramme für Kinder überhaupt nicht, findet Anders.

Allerdings müsse man darauf achten, die Fachkräfte in den Kitas immer wieder mit Fortbildungen zu unterstützen. Tatsächlich dürfte ihre Affinität zu Biologie, Physik und Chemie in den seltensten Fällen so groß sein wie bei Salman Ansari. „Viele Erzieherinnen fühlen sich in der Umsetzung naturwissenschaftlicher Bildung anfangs überfordert“, berichtet Sabina Pauen, die an der Uni Heidelberg den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie innehat und Mitautorin des Buches „Vom Kleinsein zum Einstein“ ist. Wer sich auf das „Prinzip Neugier“ und auf die Fragen der Kinder wirklich einlasse, der könne sich eben nicht auf das Gerüst eines kanonisierten Lehrplans stützen.

„Ganz schön schrecklich“ fände es die Entwicklungspsychologin, wenn schon Kita-Kindern fixe Stundenpläne vorgeschrieben würden, nach dem Motto: Von acht bis neun Feinmotorik-Üben beim Schere-Schneiden. Deshalb begrüßt sie es, dass die Pläne der Bundesländer für die frühkindliche Bildung im Vergleich zu den Lehrplänen für Schulen Spielräume lassen. Obwohl Eltern und Arbeitgeber manchmal schon für die ganz Kleinen „mehr“ fordern – mit dem Argument, Hänschen müsse so viel wie möglich lernen, damit Hans später besser reüssiert: „Wenn es unser treibendes Motiv als Gesellschaft ist, das Maximale aus dem Einzelnen herauszuholen, dann sind wir ohnehin fehlgeleitet.“

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