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Die Arbeiten am havarierten Atomkraftwerk Fukushima könnten noch Monate dauern.

© dpa

Fukushima: Die tägliche Dosis (8)

Die Reaktorkatastrophe in Fukushima beschäftigt weiterhin viele Leser. Alexander S. Kekulé geht diesmal auf einige Fragen ein, die im Zuge der Diskussion um mögliche Folgen der Havarie immer wieder auftauchen.

Nachdem ich heute bereits für den gedruckten Tagesspiegel über Fukushima geschrieben habe, versuche ich hier einmal einige Leserfragen zu beantworten. Dass unter den Lesern einige gute Diskussionen aufkamen, freut mich natürlich sehr - zumal darin viele Fragen bereits geklärt wurden, vielen Dank dafür!

Große Beunruhigung verursacht die Frage, ob in den havarierten Reaktoren immer noch nukleare Kettenreaktionen ablaufen können. Das ist nicht verwunderlich, weil auch seriöse Medien die von Tepco eingeräumte "teilweise Kernschmelze" als Beleg für eine stattfindende Kernspaltung darstellen.

Normalerweise produziert ein Kernreaktor Energie, indem schwere Atomkerne (Uran-235 und Plutonium-239) durch Beschuss mit Neutronen in zwei leichtere Atomkerne gespalten werden. Dabei wird Wärmeenergie frei und zusätzlich entstehen bei jeder Kernspaltung mehrere frische Neutronen, die weitere schwere Atomkerne spalten können. Die Neutronen können dann besonders gut Atomkerne spalten, wenn sie "langsam" sind, das heißt keine zu hohe Bewegungsenergie haben. In Leichtwasserreaktoren (wie in Fukushima) werden die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen zu diesem Zweck mit Hilfe von Wasser gebremst - ohne diesen "Moderator" führt nur ein winziger Bruchteil der entstehenden Neutronen zu neuen Kernspaltungen.

Um die Kernspaltung exakt zu kontrollieren, werden zwischen die Brennstäbe (die Uranoxid und ggf. zusätzlich Plutoniumoxid enthalten) "Steuerstäbe" geschoben, die aus einem Material bestehen, das Neutronen einfängt (z. B. Cadmium). Die Energie produzierende "Kettenreaktion" kommt nur in Gang, wenn bei jeder Kernspaltung mindestens eines der entstehenden Neutronen wieder einen weiteren Atomkern spaltet, das heißt der "Multiplikationsfaktor k" der Reaktion muss mindestens 1 sein. Der Zustand, bei dem k=1 ist, heißt "kritischer Zustand" des Reaktors. Das hat nichts mit einer Atomexplosion oder einer Kernschmelze zu tun (wie man öfter liest), sondern bedeutet nur, dass der Reaktor gerade anfängt, Energie zu produzieren. In einem laufenden Kernkraftwerk werden die Neutronen so geregelt, dass der Multiplikationsfaktor knapp über 1 liegt, das heißt jede Kernspaltung führt zu mehr als einer neuen Kernspaltung (Schneeballeffekt). Dieser Arbeitszustand eines Leistungsreaktors heißt "überkritisch" (k>1).

Wenn man die Steuerstäbe vollständig zwischen die Brennstäbe schiebt oder den Moderator (Wasser) entfernt, wird der Reaktor "unterkritisch" (k<1), das heißt die Kettenreaktion bricht ab. In diesem unterkritischen Zustand, den man gemeinhin als "Abschaltung" bezeichnet, befinden sich die havarierten Reaktoren in Fukushima. Warum kann jetzt keine Kettenreaktion mehr in Gang kommen? Hier ist die Information wichtig, dass ein abgeschalteter (unterkritischer) Reaktor so gut wie "neutronenleer" ist. Bei dem jetzt noch stattfindenden radioaktiven Zerfall der vorher entstandenen Spaltprodukte wird zwar Wärme frei - dies ist die berüchtigte "Nachwärme", gegen die man in Fukushima seit drei Wochen kämpft. Es entstehen jedoch keine Neutronen mehr (außer bei so genannten spontanen Spaltungen und Gamma,n-Reaktionen, die aber viel zu selten sind um eine Kettenreaktion zu starten). Um die Kettenreaktion wieder in Gang zu bringen, führt man beim Start von Kernreaktoren eine starke Neutronenquelle ein - von selbst kann ein Reaktor nicht kritisch werden.

In den drei havarierten Fukushima-Reaktoren fehlt überdies ein Großteil des Kühlwassers, das auch als Moderator dient. Dass ein Reaktor unter diesen Bedingungen wieder kritisch wird, ist schlichtweg unmöglich.

Dies gilt auch für den Fall, dass die Brennstäbe am Boden des Druckbehälters zu einem Brei (Corium) zusammenschmelzen, wie dies beim Harrisburg-Unfall 1979 geschah: Als man (Jahre später) das wieder erstarrte Corium untersuchte, wurden keine Hinweise auf eine stattgehabte Kettenreaktion gefunden, die Kernschmelze ist alleine aufgrund der Nachwärme eingetreten.

Allerdings gibt es eine Phase während des Reaktorunfalls, in der Tepco keinen Fehler machen darf: Das Wiederauffüllen des Kühlwassers. Im theoretisch denkbaren Fall, dass die Steuerstäbe im derzeit trocken liegenden (oberen) Teil eines Reaktordruckbehälters weggeschmolzen sind, kann das wieder steigende Kühlwasser, das als Moderator spontan entstehende Neutronen aktiviert, zu lokal begrenzter "Re-Kritikalität" führen. Um das zu vermeiden, muss das Kühlwasser mit Borsäure in hoher Konzentration versetzt werden. Technisch ist das nicht ganz einfach (dazu demnächst mehr).

Apropos "Kernschmelze" - dieses Wort führt leider ständig zu medialen Missverständnissen. Gemeint ist damit eigentlich der gerade geschilderte Vorgang, bei dem der Reaktor-Kern (die Brennstäbe samt Steuerstäben und weiterer Innereien) insgesamt zusammenschmilzt. Mit einem teilweisen Schmelzen des Kern-Brennstoffes (Brennstäbe), wie es bei Temperaturen über 2700 Grad Celcius auftreten kann, ist das keineswegs identisch. Die Formulierung "teilweise Kernschmelze" ist deshalb im Zusammenhang mit Fukushima irreführend, da es sich "nur" um ein teilweises Schmelzen (bzw. Bersten) von Brennstäben handelt. Das ist aber schon schlimm genug, wie die letzten Wochen dramatisch vor Augen führen.

In den Medien wird die (echte) Kernschmelze des Reaktorkerns oft als "Super-GAU" bezeichnet. Demgemäß wäre der Unfall In Fukushima gegenwärtig nur ein "GAU". Tatsächlich ist der "größte anzunehmende Unfall" (GAU) jedoch ein Störfall, der gerade noch beherrscht werden kann. Von einem solchen "Auslegungsstörfall" geht definitionsgemäß keine Strahlenbelastung für die Umwelt aus. Nach dieser Definition wäre Fukushima eindeutig bereits ein Super-GAU, auch wenn die Kernschmelze nicht eingetreten ist (und mit etwas Glück auch nicht mehr eintreten wird).

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