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Typische Tiwanaku-Opfergaben aus dem Khoa-Riff.

© Teddy Seguin

Funde im Titicacasee: Hunderte Opfergaben geben Aufschluss über Tiwanaku-Kultur

Lange vor den Inka war Tiwanaku wohl der erste Staat am Titicacasee. Für seine Entstehung spielte ein Felsenriff offenbar eine entscheidende Rolle.

In früheren Zeiten war ein stabiler Staat ohne Rituale und Religion undenkbar. Sie übernahmen die Rolle der politischen Institutionen, inklusive Belohnung und Bestrafung der Bevölkerung. So war es auch in den Anden. Funde aus dem Titicacasee geben nun Aufschluss über Tiwanaku – den vermutlich ersten Staat in der Region. Aus einer Fülle von wertvollen Objekten schließen Forscher, dass ein Felsenriff nahe der Sonneninsel inmitten des Sees ein rituelles Zentrum der Kultur zwischen dem 8. und 10 Jahrhundert war. Dort festigte die religiöse Elite bei Zeremonien die Macht des aufstrebenden Staates, wie das Team um Christophe Delaere von der University of Oxford in den "Proceedings" der US-amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften ("PNAS") berichtet.

Hobbytaucher entdeckten einst das Riff

Der an der Grenze von Peru und Bolivien auf gut 3800 Metern Höhe gelegene Titicacasee hat in der Mythologie der Inka-Kultur eine herausragende Bedeutung. Die Inka beherrschten die Region von etwa 1400 bis 1532. Aber schon viel früher, im Zeitraum von 500 bis 1100, war das Becken um den See das Kernland des Tiwanaku-Staates, dessen gleichnamige Hauptstadt südlich des Sees lag. Ein zentraler religiöser Ort war den Forschern zufolge die Isla del Sol (Sonneninsel) auf der heutigen bolivianischen Seite des riesigen Sees, der mehr als 15 Mal größer ist als der Bodensee.

Schon lange hatten Wissenschaftler angenommen, dass die Religion eine entscheidende Rolle bei der Bildung und Festigung des Tiwanaku-Staates gespielt hatte. Jedoch fehlten lange Zeit Beweise für entsprechende Rituale, die diese Theorie unterstützt hätten.

Die Ausgrabungsstätte im Titicacasee.
Die Ausgrabungsstätte im Titicacasee.

© Teddy Seguin

Vor dem nordwestlichen Ufer der Insel hatten japanische Hobbytaucher 1977 ein Felsenriff entdeckt und dort Räuchergefäße und kleine Tierfiguren gefunden. An diesem Khoa-Riff fanden weitere Expeditionen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre Hunderte weitere Objekte, darunter Tierknochen, Keramik sowie Figuren aus Gold und Silber. Einige von ihnen stammten aus Inka-Zeiten, andere aus Tiwanaku-Zeiten. Eine genaue Zuordnung aber war bei vielen Objekten schwierig. Zudem gingen die Forscher davon aus, dass das Riff unter den angehäuften Sedimenten noch wesentlich mehr Fundstücke verborgen hielt. Deshalb erkundete das Team um Delaere das Khoa-Riff seit 2013 in einer weiteren Unterwasserexpedition.

Tausende Objekte unter der Seeoberfläche

Dabei fanden die Forscher etwa fünf bis sieben Meter unter der Wasseroberfläche auf einer Fläche von 2400 Quadratmetern eine Fülle von Objekten: Räuchergefäße, etwa in Form von Pumas, Goldschmuck, Knochen von Lamas, Vögeln, Fröschen und Fischen, Muscheln sowie mehr als 1000 Keramikscherben. Per Radiokarbon-Datierung (C14) bestimmten die Wissenschaftler das Alter auf den Zeitraum zwischen etwa den Jahren 800 und 960 – die Zeit der Expansion des Tiwanaku-Staats.

"Die luxuriösen Gold-, Muschel- und Steinornamente unterstreichen die teure Zurschaustellung von Wohlstand während der Zeremonien, denn diese Materialien zählten zu den geschätztesten in den Anden", schreiben die Autoren. "Zum Beispiel mussten die Spondylus-Muscheln durch Handel aus den warmen Meeresgewässern der Küste Ecuadors erlangt werden, fast 2000 Kilometer entfernt."

Eine bolivianische Gemeinschaft an der Ausgrabungsstätte.
Eine bolivianische Gemeinschaft an der Ausgrabungsstätte.

© Teddy Seguin

Angesichts der Fülle des Materials schließen die Forscher, die Tieropfer und die wertvollen Opfergaben seien regelmäßig dargeboten worden. Damals habe ein Teil des Khoa-Riffs über der Wasseroberfläche gelegen. Dass die Rituale ausgerechnet auf der Isla del Sol stattfanden, ist für die Forscher kein Zufall: "Die Sonneninsel und insbesondere das Khoa-Riff liegen nahe am geografischen Mittelpunkt des Sees", schreiben sie. "Daher überrascht es nicht, dass die Tiwanaku-Elite diesen Ort für teure und sehr bedeutende Zeremonien nutzte." Bei diesen Zeremonien dürfte auch Feuer zum Einsatz gekommen sein, denn Delaere und seine Kollegen fanden an mehreren Stellen Reste von Holzkohle.

 Das Riff als Zentrum der Glaubenswelt

Während der Zugang zur Insel und zum Riff schwierig und einer exklusiven Gruppe von Menschen vorbehalten gewesen sei, "könnten die Bewohner der umliegenden Dörfer die Zeremonien aus der Ferne bezeugt haben". Zu jener Zeit sei das gesamte Ufer des Titicacasees dicht besiedelt gewesen. Mit Hilfe dieser Rituale habe die Religion den aufstrebenden Staat gefestigt. "Die Quantität und Qualität der Opfergaben zeigten, dass das Riff im Zentrum der damaligen Glaubenswelt stand."

Religionen und Rituale dienten den Forschern zufolge hauptsächlich dazu, übernatürliche Kräfte zu kontrollieren und zu manipulieren sowie den Zusammenhalt in der Gruppe zu fördern. Religiöse Gottheiten nahmen dabei die Rolle "übernatürlicher Bestrafer" ein. Sie sollten ein Ansporn für die Bevölkerung sein, zu kooperieren und sich an moralische Codes zu halten. Gleichzeitig konnten die übernatürlichen Mächte Menschen belohnen, die sich an die Regeln hielten.

Deshalb, so die Forscher, spielten diese Rituale eine große Rolle für den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, vor allem da es vermutlich keine weltlichen Institutionen gab, um Normen durchzusetzen. Insofern dürften die reichen Opfergaben des Khoa-Riffs maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der Tiwanaku-Staat rund um den Titicacasee aufblühen und bestehen konnte. (fsch/dpa)

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