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Verwirrende Vielfalt. Unser Erbgut wird über mindestens vier Millionen Schalter und weitere Regulationsmechanismen gesteuert. Weitaus komplizierter als bei dieser Schalttafel eines Wasserwerks bei Pristina.

© Thomas Trutschel/photothek.net

Genetik: Schaltzentralen des Lebens

Das Wissen um die Gene nützt nichts, wenn man die dazugehörigen Anweisungen ignoriert. Sie liegen im „Müll“. Nun machen sich Forscher auf den Weg, diese Informationen zu entschlüsseln.

Vergleicht man die Erforschung des Erbguts mit der Erkundung einer Millionenstadt, so haben Forscher vor elf Jahren mit den Daten des Humangenomprojekts lediglich ein Straßenverzeichnis in die Hand bekommen – vollständig, aber in einer Fremdsprache verfasst. Die Buchstaben A, C, G und T wiederholen sich darin drei Milliarden Mal in verschiedenen Variationen. Auch wenn Wissenschaftler diese Sprache lernen, die Aufzählung der Straßen allein bringt wenig. Was fehlt, ist eine verlässliche Karte oder ein Navigationssystem, das die Verbindungen aller Straßen anzeigt. Samt Ampelkreuzungen und anderen Schaltstellen, die für das Tagwerk in der Stadt entscheidend sind.

Dem sind 442 Forscher aus 32 Institutionen aus den USA, Großbritannien, Spanien, Singapur und Japan nun ein Stück näher gekommen. In 30 Studien, die heute zeitgleich in den Fachzeitschriften „Nature“, „Genome Biology“ und „Genome Research“ erscheinen und für jeden Forscher oder Interessierten offen zugänglich sind, stellen sie eine erste Kartenskizze namens „Encode“ vor. Zwar wissen sie nicht, wie viele Details auf dieser Karte noch fehlen. Trotzdem versuchen bereits einige Forscher, die Karte in den Prototypen eines GPS-Systems einzuspeisen. Das GPS soll erklären helfen, wie die Querverbindungen und Schaltstellen bei der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind oder wie sie dazu beitragen, dass wir viel komplexere Organismen sind als etwa Würmer oder Mäuse. Diese beiden Anwendungen für die Encode-Daten erscheinen in „Science“.

Geregelt. Schalter steuern, wie und wann das Erbgut abgelesen wird.
Geregelt. Schalter steuern, wie und wann das Erbgut abgelesen wird.

© StZ

Das Projekt Encode – oder die Enzyklopädie der DNS-Elemente – hat einen wahren Datenberg produziert: 15 Terabyte, zusammengetragen aus 1647 Experimenten an 147 verschiedenen Zelltypen. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass mindestens 80 Prozent des Erbguts irgendeine Funktion hat – und nicht nur die ein bis zwei Prozent, die Gene genannt werden und in Eiweiße übersetzt werden.

Nachdem mit der Entzifferung des Erbguts ein erstes Straßenverzeichnis vorlag, hatten sich die Wissenschaftler zunächst auf einige auffällige Straßenzüge mit Werkstätten konzentriert, in denen die Bausteine des Lebens (Eiweiße) hergestellt werden. Sind die Bausteine fehlerhaft – etwa, weil es kleine Änderungen in ihrer Blaupause gab – so können die Zellen nicht richtig funktionieren und es kommt zu Krankheiten, lautete die Logik dahinter. Beweise gab es etliche: Viele klassische Erbleiden werden durch einzelne Mutationen in den Genen verursacht und schädigen die Organe schwer.

Doch solche Erbkrankheiten sind selten. Und die Suche nach den genetischen Ursachen der großen Volkskrankheiten erwies sich als ein frustrierendes Stochern im Nebel. Zwar fand man ab und an ein Gen, das zum Beispiel bei Herzkranken, Demenzpatienten oder Diabetikern öfter auftritt als beim Rest der Bevölkerung. Allerdings erhöhte es das Erkrankungsrisiko immer nur um ein paar Prozentpunkte. Manches Gen trägt etwa ein Prozent der Menschen in sich, nur ein Bruchteil wird krank. Gleichzeitig förderten GWAS-Studien, die seit 2005 stichprobenartig das Erbgut großer Patientengruppen auf einzelne Schreibfehler durchforsteten, meist rätselhafte Ergebnisse zutage: Das Erbgut war in fast 90 Prozent der Fälle an Stellen außerhalb der Gene verändert – dort, wo es egal sein sollte. Viele Forscher waren ratlos und interpretierten es entweder als einen Hinweis auf das nächstgelegene Gen oder legten solche Ergebnisse beiseite. Denn von dem insgesamt 1,84 Meter langen Erbgutfaden in jedem Zellkern hielt man lange nur knapp vier Zentimeter für interessant, eben jene Werkstätten für die Bausteine des Lebens. Der Rest galt als riesige Müllhalde (junk-DNS).

Dass diese Annahme nicht stimmen kann, hatten viele kleine Studien angedeutet. Nun wird mit Encode das Ausmaß des Irrtums deutlich. Denn die Arbeiter an den Werkbänken des Lebens sind nur die unterste Hierarchieebene. Über ihnen gibt es etliche weitere Leitungsebenen und Schaltzentralen, die ihnen sagen, ob sie in Nachtschichten schuften müssen oder Dauerurlaub nehmen können. Nicht immer sitzen diese Regulatoren direkt im Nebenzimmer. Meist geben sie ihre Anordnungen von einer Schaltzentrale aus per Ferngespräch weiter. Möglich wird das durch die dreidimensionale Faltung des Erbgutfadens in einem Chromosom. Über die Schlaufen werden Erbgutregionen zu Nachbarn, die eigentlich weit voneinander entfernt sind.

„Wir haben vier Millionen Schalter gefunden, wo ein Eiweiß an eine kurze Erbgutsequenz bindet und so bestimmte Gene an- und ausschaltet“, sagt John Stamatoyannopoulos von der Universität von Washington in Seattle, der an den Studien beteiligt war. „Nur ein Bruchteil der Schalter ist für alle untersuchten Zelltypen zuständig, die meisten sind Spezialisten.“ Etliche dieser Schalter konnten die Forscher bereits den Genen zuordnen, die sie steuern. Mit diesem Wissen könne man nun die Daten aus den oft kritisierten GWAS-Studien neu interpretieren. „Das Geld wurde nicht nutzlos ausgegeben“, sagt Stamatoyannopoulos.

Gleichzeitig ergaben die Studien, dass mindestens 75 Prozent der Erbgutsequenzen in die Verkehrssprache der Zelle, die RNS, übersetzt werden. Die meisten sind keine Blaupausen für Eiweiße, sondern haben Regulationsfunktionen. Manche beinhalten die Instruktionen für die Schalter, andere verstehen die Forscher gar nicht. Stamatoyannopoulos ist trotzdem optimistisch: „Hinter ihr Geheimnis kommen wir auch noch!“

Die Fachzeitschrift "Nature" hat im Internet einen "Encode-Explorer" veröffentlicht: www.nature.com/encode

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