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Wissen: Geoforscher vor Gericht Sie sollen nicht ausreichend vor dem schweren Erdbeben in L’Aquila im April 2009 gewarnt haben

Am 6. April 2009 bebte die Erde im italienischen L’Aquila.

Am 6. April 2009 bebte die Erde im italienischen L’Aquila. Die Stadt wurde weitgehend zerstört, 70 000 Menschen verloren ihr Obdach, 309 starben. Obwohl in den Monaten zuvor die Erde immer wieder gewackelt hatte, verzichtete ein Expertengremium auf die Evakuierung der Stadt und rief die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Nun wird ihnen der Prozess gemacht, heute ist der erste Verhandlungstag in L’Aqulia. Die internationale Forschergemeinde protestiert heftig: Wie kann man Wissenschaftler für etwas vor Gericht stellen, was außerhalb ihrer Reichweite liegt? Wie kann man sie anklagen, sie hätten ein Erdbeben nicht vorhergesagt, wo doch solche Ereignisse gar nicht vorhersagbar sind?

Die Stadt mit gut 70 000 Einwohnern liegt in einem besonders erdbebengefährdeten Gebiet. Von Oktober 2008 an hatte die Erde nahezu täglich gezittert. Am 30. März erreichte ein Beben schließlich die Magnitude 4,0. Daraufhin traten am nächsten Tag die Spitze der nationalen Erdbebenforschung und des Zivilschutzes, die „Kommission für große Gefahren“, in L’Aquila zusammen. Nach einer Stunde reisten die „höchsten wissenschaftlichen Autoritäten“, wie sie sich selbst im Sitzungsprotokoll nannten, ohne große Warnungen wieder ab. Dann kam die Katastrophe: Ein Erdbeben der Stärke 6,3. Bis heute leidet die Bevölkerung an den Folgen, 8854 Personen leben in barackenähnlichen Unterkünften, 816 sind noch immer in Hotelzimmern oder in Kasernen untergebracht.

Der Staatsanwalt beschuldigt nun die sieben Angehörigen der Kommission der „vielfachen fahrlässigen Tötung“; sie hätten den Bürgern aus „Nachlässigkeit und Unfähigkeit“ nur „oberflächliche und irreführende Informationen“ über die drohende Gefahr gegeben. Damit hätten sie „das Ergreifen von Vorsichtsmaßnahmen oder entsprechendem Verhalten verhindert“.

Aus dem, zunächst geheimen, Sitzungsprotokoll indes wird deutlich, dass die „echten“ Wissenschaftler in der Kommission durchaus auf die Unmöglichkeit jedweder Erdbebenprognose hingewiesen haben. Im Prinzip, sagten sie, könne alles passieren oder auch gar nichts; nicht einmal der dichte Schwarm kleinerer Stöße in der Region müsse zwingend der Vorläufer eines großen Bebens sein.

Das Problem war nur: Die Wissenschaftler tagten nicht unter ihresgleichen wie auf einem Fachkongress. In Italiens nationaler „Kommission für große Gefahren“ sind sie zugleich an der politisch-praktischen Umsetzung ihrer Erkenntnisse beteiligt, außerdem sitzt die aufs Machen ausgerichtete Zivilschutzbehörde mit am Tisch. In L’Aquila kamen noch Kommunalpolitiker und verängstigte Bürger hinzu. Unterm Strich ging es darum, ob Italien es sich leisten konnte, sollte oder wollte, eine komplette Stadt vorab zu evakuieren. Mit hohen Kosten, aber nur auf Verdacht und unbestimmte Zeit.

Man entschied sich – wer, das wird beim Prozess zu klären sein: die Wissenschaftler oder der Zivilschutz? –, eher auf das Nichteintreten der Katastrophe zu wetten. In der anschließenden Pressekonferenz brachte der Vertreter des Zivilschutzes, Bernardo De Bernardinis, das so auf den Punkt: Die Aquilaner sollten „bei einem Glas Rotwein“ beruhigt in ihren Häusern verweilen. In den folgenden Blitzmeldungen der Agenturen und in den Fernseh- und Radioberichten danach gingen auch noch viele jener Vorsichtsklauseln verloren, die De Bernardinis durchaus angefügt hatte. Es blieb der Eindruck einer großen, staatlich-wissenschaftlichen Entwarnung.

Genau das ist die Grundlage des Prozesses. Jetzt liegt alles an den Richtern.

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