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Legendär. 1997 machte sich Matthias Platzeck (l.) als „Deichgraf“ einen Namen.

© Ralf Hirschberger/dpa

Geschichte der Bekämpfung von Naturkatastrophen: Vor dem Deichgraf kam die Rote Armee

Für die Opfer immer ein Fluch, für die Politik gelegentlich ein Segen: Ein neues Buch erzählt die Geschichte der Naturkatastrophen und ihrer Bewältigung.

Immanuel Kant hat nicht nur drei Bücher zur Kritik der menschlichen Vernunft, sondern auch mehrere über die „Ursachen der Erderschütterungen“ geschrieben. Das letzte erschien 1776 „bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder Europas gegen Ende des vorigen Jahres betroffen hat“. Gemeint war das Erdbeben von Lissabon mit 60.000 Todesopfern. Als Aufklärer wollte Kant die Naturkatastrophe vom Stempel des Bösen oder gar einer Strafe Gottes befreien. Doch als Deist warnte er: Der Mensch habe „kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten“. Das gilt immer noch, selbst wenn man Gott beiseitelässt.

Heute lässt sich das Erdbeben von Lissabon als Mutter seismologischer und geologischer Forschung lesen – und als Großmutter der Versicherungswirtschaft. So abgeklärt jedenfalls sieht es Nicolai Hannig in seiner neuen Studie über Naturkatastrophen, ihre Vorsorge und Risiken. Mit Recht stellt Hannig fest, dass Begriffe wie Naturgefahren und Naturkatastrophen anthropozentrisch sind, also die Auswirkungen der Naturereignisse auf den Menschen meinen. Dessen Wahrnehmungen und Reaktionen auf die äußere Natur umschließen in dem historisch kurzen Zeitraum seit dem Erdbeben von Lissabon ebenso Alarmismus und Vorsorge vor Naturgefahren wie Naturschwärmerei und „Katastrophenromantik“ des 19. Jahrhunderts. In jüngerer Zeit folgten der moderne und postmoderne Katastrophentourismus, medialer Voyeurismus und Katastrophensimulationen.

Wer weiß schon, dass 1846 ein schweres Erdbeben Bonn erschütterte?

Der nicht betroffene Teil der Gesellschaft „bewältigt“ Naturkatastrophen auf die einfachste Art: durch Vergesslichkeit und Verdrängung. Wer weiß schon noch, dass auf das Erdbeben von Lissabon ein Vulkanausbruch auf Island 1783 folgte, dessen Folgen ganz Europa ein Jahr lang zu spüren bekam? Dass ein Bergsturz bei Goldau 1896 die Schweiz erschütterte und ein schweres Erdbeben 1846 Bonn und Umgebung? Preußen erlebte 1840 Hochwasser und Deichbrüche an Nogat und Weichsel, ein Wirbelsturm verwüstete 1898 ein Industriegebiet in Köln-Bayenthal. Die größte Naturkatastrophe des 19. Jahrhunderts war 1882 der Ausbruch des Vulkans Krakatau, der 36 000 Tote forderte. Das neue Jahrhundert begann mit dem Erdbeben von San Francisco 1906 (3000 Tote, 28 000 zerstörte Häuser). Niederösterreich erlebte 1941 eine Hochwasserkatastrophe, die nur deshalb nicht so heißen durfte, weil Goebbels anordnete, das Wort Katastrophe „aus dem gesamten Sprachgebrauch auszumerzen“ und durch „Großnotstände“ zu ersetzen.

Unser gegenwärtiges Katastrophengedächtnis setzt, nach zwei Kriegskatastrophen, erst wieder mit dem Oder-Deichbruch 1947 ein, der mit vereinten deutschen, polnischen und sowjetischen Kräften – der Roten Armee – bewältigt wurde. In der Bundesrepublik ist er vielleicht deswegen weniger in Erinnerung als die Sturmflut an der Nordsee 1953 und die Hamburger Sturmflut 1962, in der sich Helmut Schmidt als Katastrophenmanager bewährte. Seine Parteifreunde Gerhard Schröder und Matthias („Deichgraf“) Platzeck machten es ihm später nach und gewannen damit Wahlen.

Fluch und Segen von Naturkatastrophen

Fast könnte man zynisch von Fluch und Segen der Naturkatastrophen sprechen: Fluch für die Opfer, Segen für die Versicherungswirtschaft und eine Bühne für die Politik. Aber so einfach ist es nicht. Hannig zitiert den führenden Sozialhistoriker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Otto Hintze mit der Feststellung, der Wasserbau sei zum Zugpferd der inneren Staatsbildung geworden – was nur Anarchisten missfallen kann. Das Gleiche gilt für alpine Bau- und Forstmaßnahmen, die der Schweiz nahezu ein Jahrhundert Sicherheit vor Bergstürzen und Lawinengefahren brachten, für den Aufbau von seismografischen und Sturmwarndiensten sowie Technischer Hilfswerke, die den Grundstock öffentlicher Katastrophenvorsorge bilden.

Das alles wäre nicht ohne Steuerung und Steuerfinanzierung durch einen starken Staat möglich gewesen. Es machte den Staat aber auch zum Hauptverantwortlichen für Katastrophen eigener Art, die durch Fehlplanungen, Technikversagen und fundamentale Eingriffe in ökologische Abläufe mit Folgen für Klima und Umwelt ausgelöst wurden. Unterm Strich wurde nicht alles sicherer, sondern wie in Kafkas Parabel „Der Bau“ immer neue Unsicherheiten geschaffen.

Sorglosigkeit der Versicherten

Dagegen hilft auch keine Versicherung, obwohl Rückversicherungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Großrisiken aus Naturkatastrophen auf nationale und internationale Versicherungsverbände verteilen. Als Kehrseite der Versicherung von Elementarschäden erwies sich die Sorglosigkeit der Versicherten, die im Vertrauen auf Schadensersatz die nötige Eigenvorsorge vernachlässigten. Die ist heute zwar Bestandteil der Versicherungsbedingungen, aber im Ernstfall reicht beides nicht aus, um Großschäden abzudecken.

Nach dem Hurrikan „Andrew“ in Florida 1992 wurden nur zwei Drittel des Gesamtschadens ersetzt, neun Rückversicherungen mussten Konkurs anmelden. Nach dem Hurrikan „Katrina“, der 2005 alle bisherigen Größenordnungen sprengte, musste der Staat mit Milliardenhilfen einspringen. Spätestens im 21. Jahrhundert wissen wir, dass durch den Klimawandel weitere, höhere und unkalkulierbare Naturgefahren drohen.

Sind das überhaupt noch Naturgefahren? Hannigs Buch „Kalkulierte Gefahren“, das mit dem Jahr 1980 endet, macht Halt an der Schwelle zur Größenordnung komplexer Natur- und Technikkatastrophen wie Fukushima, die weder versicherbar noch durch Prävention oder Technikeinsatz beherrschbar sind.

Eine entsicherte Welt mit unkalkulierten Gefahren

Einen Blick auf deren grenzenloses Risiko hat Christoph Wehner in seinem 2017 erschienenen Resümee der Sicherheitspolitik, Sicherheitsproduktion und Expertise in Deutschland und den USA („Die Versicherung der Atomgefahr“, Wallstein) durch von Menschen entfesselte Naturkräfte geworfen. Er zitiert amerikanische Studien, die von einem „nicht quantifizierbaren Katastrophenrisiko“ sprechen, das längst den Zweckoptimismus auch der deutschen Versicherungswirtschaft gesprengt hat. Die warb noch 1967 in einer Anzeige, Kernkraftwerke seien „hoffentlich Allianz versichert“.

Zwar schloss sich die deutsche Assekuranz zur „Deutschen Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft“ (DKVG) zusammen, aber auch die kam nicht mehr ohne eine zusätzliche – zunächst auf 500 Millionen D-Mark begrenzte – Staatshaftung aus. Diese musste inzwischen „summenmäßig unbegrenzt“ erweitert werden und könnte durchaus – wie in Tschernobyl – den Staatshaushalt eines Einzelstaats sprengen und die internationale Gemeinschaft herausfordern. Für Christoph Wehner markiert das den „Übergang zu einer zunehmend entsicherten Welt“ mit unkalkulierbaren Gefahren.

Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800. Wallstein-Verlag, Göttingen, 2019. 654 S., 75 Abb., 39,90 €. Das Buch ist ab Montag, 4. März, im Buchhandel erhältlich.

Hannes Schwenger

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