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Erklärungsversuche. Vor dem Fanatismus und dem Hass, die hinter den Terrorangriffen vom 11. September 2001 standen, versagte die Diskursanalyse.

© AFP

Geschichte der Emotionen: Neue Fragen im Angesicht des Hasses

Von Aristoteles bis zur Hirnforschung: Der Londoner Historiker Jan Plamper erforscht die Geschichte der Gefühle. Er sieht in der Emotionsgeschichte eine neue Kategorie der historischen Analyse.

Als der Historiker Jan Plamper über soldatische Angst im Ersten Weltkrieg forscht, besucht er einen Anatomiekurs. Er will den physiologischen Ort der Entstehung von Angstgefühlen in natura sehen, die Amygdala, den Mandelkern im Temporallappen des Gehirns, „den basalen Sitz des basalsten aller Gefühle“. Lange Zeit hat die Historiker das Gehirn vor allem als Ort des Gedächtnisses interessiert, heute steigt eine neue Generation, zu der auch Plamper gehört, tief in die Hirnforschung ein. „Geschichte und Gefühl“ heißt Plampers jetzt erschienenes Buch, wobei der Buchtitel wohl der Alliteration geschuldet ist. Denn im Buch selbst ist meist nicht von Gefühlen, sondern von Emotionen die Rede; der Autor verwendet die beiden Begriffe synonym.

Das Wort Emotion wurde früher, als man noch seine lateinische Herkunft empfand, mit Erregung übersetzt. Wer emotional reagierte, war nicht nur innerlich beteiligt; er war erregt. So wie Henri Bergson, der im September 1914 nach dem deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien erklärte, das Ziel des Philosophen sei es, zu verstehen, nicht sich zu empören, aber angesichts der deutschen Untaten beim Einmarsch ziehe er es vor, nicht zu verstehen, sondern sich zu empören.

Das Wissen um den lateinischen Ursprung des Begriffes Emotion ist im Zeitalter der universalen Anglophonie nicht mehr präsent. Dafür gibt es sogar ein Frauenmagazin mit dem Titel „Emotion“ und Google präsentiert zu dem Begriff 185 Millionen Suchergebnisse, während das Gefühl nicht einmal ein Drittel dieser stolzen Zahl erreicht. Das Gefühl galt einst neben Vorstellen und Wollen als das dritte Grundvermögen der Seele. Heute ist die Seele in den Bezirk des Religiösen verbannt.

Wer den Menschen erforschen will, fragt nicht mehr nach seiner Seele, sondern nach seinem Gehirn. Das Gehirn ist als Forschungsthema nahezu omnipräsent. Jan Plamper schreibt dazu: „Ganze Forschungsfelder erhalten ,Neuro’-Designationen – Neuropolitologie, Neuroökonomie, Neuroethik, Neuroästhetik, Neuroliteraturwissenschaften, Neurotheologie. Waren während der Postmoderne noch Philosophie und Linguistik die Leitwissenschaften, so sind die Neurowissenschaften zur neuen Leitwissenschaft jener Disziplinen aufgestiegen, die Texte und Bilder untersuchen.“

Den Beginn der jüngsten Entwicklung sieht Plamper mit dem 11. September verknüpft: „Möchte man den Startschuss für den derzeitigen Run exakt datieren, so kann man den 11. September 2001 angeben, denn er beschleunigte wie ein Katalysator Prozesse, die schon länger im Gang waren.“

9/11 löste die Wende zur Gehirn- und Emotionsforschung aus

Die Terrorangriffe waren ein radikaler Realitätseinschlag, sie evozierten einen enormen Erklärungsbedarf, dem mit den alten Kategorien und Konzepten nicht beizukommen war. Im Angesicht von Phänomenen wie religiösem Fanatismus und mörderischem Hass versagten Diskursanalyse und andere Instrumentarien des Poststrukturalismus. Es begann die Hochzeit der Lebenswissenschaften, die Biologie verdrängte die Physik endgültig als naturwissenschaftliche Leitdisziplin.

In der Geschichtswissenschaft, die heute stark vom Paradigma der Cultural Studies geprägt ist, spielen Themen wie Geschlecht, Sexualität, Körper und Umwelt eine große Rolle, in die sich die Geschichte der Emotionen ohne Weiteres einfügen lässt. Manche sprechen von einem „emotional turn“, der auf den „linguistic turn“ und den „iconic turn“ gefolgt ist. Die Emotion soll nicht eine weitere Teildisziplin etablieren helfen, sondern eine zentrale Kategorie der geschichtswissenschaftlichen Analyse sein.

Jan Plamper, der heute eine Professur an der University of London hat, will in seinem Buch Grundlagen der Emotionsgeschichte erarbeiten, zugleich aber auch eine eigene Position beziehen. Einleitend stellt er folgende Fragen: „Was ist Emotion? Wer hat Emotion? Wo ist Emotion? Haben Emotionen Geschichte? Vorausgesetzt sie haben Geschichte, wie kommt die Geschichtswissenschaft an diese Geschichte heran?“

Ausgehend von diesen Leitfragen vollzieht der Autor einen ungeheuer kenntnisreichen und von stupender Gelehrsamkeit zeugenden Gang durch die Wissenschaftsgeschichte, der bei Aristoteles und seinen Definitionen der Emotionen beginnt, sich intensiv mit Darwins 1872 erschienenem Buch „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“ und dessen Rezeptionsgeschichte auseinandersetzt und bis zur Gegenwart reicht. Er setzt sich dabei unter anderem mit Behaviorismus, kognitiver Psychologie und den Spiegelneuronen auseinander, kommt aber ohne jede Erwähnung der Humanethologie aus, die vor allem im deutschen Sprachraum jahrzehntelang Furore machte.

Ein roter Faden bei Plampers Gang durch die Emotionsgeschichte ist der Antagonismus zwischen dem universalistischen und dem sozialkonstruktivistischen Ansatz. Dieser grundsätzlichen Opposition begegnen wir in vielen Feldern immer wieder, etwa der Dichotomie von Natur versus Kultur in der europäischen Ideengeschichte, der Debatte, ob Intelligenz ererbt oder angeboren sei, oder der Grundsatzdiskussion über das Vorhandensein menschlicher Willensfreiheit in der Hirnforschung. Und auch Historiker, die sich mit Emotionen beschäftigen, können trefflich darüber streiten, welche Gefühlsregungen nun physiologisch determiniert sind und was dagegen durch den sozialen oder kulturellen Kontext jeweils spezifisch geprägt ist.

Heute boomt die Emotionsgeschichte. Die emotionale Intelligenz hat die soziale Intelligenz in ihrer öffentlichkeitswirksamen Präsenz verdrängt. Auch in anderen Bereichen dominieren die Emotionen, was selbst schon wieder ein Thema für die Geschichtswissenschaft ist. Eines Tages werde man vielleicht feststellen, dass in unserer Zeit „Emotionen“ und „emotional“ weitverbreitete Schlagwörter in westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften sind, die die noch in den 1980er Jahren gängigen Begriffe wie „Psychologie“, „psychisch“ oder „mental“ in Alltagssprache, Werbung, Politik und Sport nahezu verdrängt haben, schreibt Plamper. „Die Angehörigen der Opfer eines Amoklaufes an einer Schule etwa müssen in unseren Tagen mit dem Verlust ihrer Kinder ,emotional’ zurechtkommen – nicht ,mental’ oder ,psychisch’, wie es noch vor 20 Jahren geheißen hätte.“

Es ist das Schicksal jedes Booms, dass er irgendwann auch wieder zu Ende geht. Aber es spricht doch einiges dafür, dass die Emotion sich neben Begriffen wie Ethnie, Klasse oder Geschlecht als grundlegende Kategorie etablieren kann. Und wer jenseits aller aktuellen Moden an einer wirklich fundierten Einführung in die Emotionsgeschichte interessiert ist, dem sei das ungewöhnlich kluge und anregende Buch von Jan Plamper unbedingt empfohlen.

Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte; Siedler, München 2012; 478 Seiten, 29,99 €.

Der Autor stellt sein Buch am Montag, dem 4. Februar, in Berlin vor – im Gespräch mit Gerd Gigerenzer und Ute Frevert (19 Uhr; Max Planck Science Gallery, Markgrafenstraße 37, 10117 Berlin). Anmeldung an jule.menig@randomhouse.de erforderlich.

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