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Geschichte: Preußens Seelenärztin

Die jüdischen Salonnière Rahel Varnhagen ist eine Symbolfigur der revolutionären deutschen Individualitätskultur. Eine neue Deutung zeigt sie als Heroine der Emanzipation im 19. Jahrhundert. Historische Ergänzungen zu einem Fernsehfilm

Rahel Varnhagen (geb. Levin), die zwischen 1790 und 1830 in Berlin einen höchst ungewöhnlichen Salon führte, ist in jüngster Zeit zu einer Art Kultfigur der neuen Historie geworden – und dabei immer rätselhafter. Denn hinter dem quasi spontanen biografischen Entzücken über die selbstbewusste Jüdin und couragierte „Kleine“, die anscheinend nach Belieben die urbane Ständegesellschaft aufzumischen und die intellektuellen Männer zu dirigieren vermochte, musste zwangsläufig die Frage nach dem besonderen kulturellen Magnetfeld auftauchen, aus dem all das hervortreten konnte.

Rahel war ja nicht nur eine frühe Heroine der Frauenemanzipation, irgendetwas ganz und gar Eigentümliches zwischen Madame de Staël und Mary Shelley-Wollstonecraft. Sie war auch, neben Moses Mendelssohn und Salomon Maimon, eine zentrale Vorkämpferin der Judenemanzipation. Und als solche ist sie zugleich eine Symbolfigur der revolutionären deutschen Individualitätskultur, wie sie damals von Weimar und Berlin ausging.

Dies auf einen gemeinsamen Quellpunkt zurückzuführen, fällt auch gestandenen Historikern nicht leicht, um so mehr als Rahels primäre Ausdruckswelt – die freie und virtuose gesellschaftliche Konversation – unserer Ahnung überlassen bleibt. Aufzeichnungen und Dokumente dazu gibt es so gut wie nicht. Die Salongespräche des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurden nicht protokolliert, weder in Paris, noch in Wien oder Berlin. Gäbe es nicht Rahels fulminante Briefsprache, die ähnlich dialogisch ausgerichtet ist, wir hätten kaum eine Vorstellung vom vielgerühmten Gesprächston dieser „intelligentesten Frau des Kosmos“, wie Heinrich Heine schwärmte.

Jetzt ist ein Filmteam das Wagnis eingegangen, Rahels bildwiderständiges Genie zu portraitieren, was einiger Kunstgriffe bedurfte. Der wichtigste: dass aus dem „Menschenwald“ ihres Lebens wohlweislich nur eine markante Episode herausgehoben wird. Sie zeigt uns die von zwei eigenen Liebesenttäuschungen kaum genesene Rahel als Stifterin und Begleiterin einer „unmöglichen“ Affäre zwischen dem schönen und musikalisch hochbegabten Preußenprinzen Louis Ferdinand und der ebenso schönen wie emanzipierten Pauline Wiesel aus einer Berliner Hugenottenfamilie.

Wie diese Amour fou sich entwickelte, nämlich dramatisch, wissen wir aus den Briefen der drei, wie er endete, nämlich mit dem Tod des 34-jährigen Prinzen in einem Gefecht bei Saalfeld 1806, steht in den Geschichtsbüchern. Weniger bekannt ist die Rolle Rahels in der chaotischen Schlussphase des Verhältnisses, in der sich ihr die beiden als gemeinsamer Seelenfreundin und Analytikerin vorbehaltlos anvertrauten. Briefe Rahels lassen vermuten, dass sie selbst erotisch involviert war, und zwar nach beiden Seiten, zu Pauline und zu Louis Ferdinand.

Der Prinz und die bürgerliche Geliebte, das war um 1800 eine Allerweltsgeschichte, für die ein Verleger nicht viel zahlte. Der Prinz und die intellektuelle jüdische Salonnière als Seelenärztin, das war durchaus etwas anderes, eine Geschichte, für die es vermutlich noch gar keine angemessene Erzählsprache gab und die man sich bestenfalls als eine Novität aus dem nachrevolutionären Paris vorstellen konnte. Doch sie war nicht aus Paris, auch nicht aus London oder Petersburg, sie war aus Berlin und konnte nur von dort sein. Denn nirgendwo sonst in Europa gab es damals jüdische Salons, jedenfalls keine prominenten wie die von Rahel Levin oder ihrer schönen Konkurrentin Henriette Herz, von denen die ganze Stadt sprach. Und nirgendwo sonst war es denkbar, dass sich ein philosophischer König und ein philosophischer Jude den Ruhm teilten, die führenden Aufklärer der Residenzstadt zu sein. Gemeint sind natürlich Friedrich der Große, der „roi philosophe“, und Moses Mendelssohn, der „juif de Berlin“, von deren merkwürdigem Gegenüber kein Geringerer als der Comte de Mirabeau fasziniert war. Mirabeau hielt sich 1786/87, also zwei Jahre bevor er zum Wortführer der Pariser Revolution wurde, in Berlin auf, um den politischen Aufstieg Preußens zu studieren. Er erlebte sowohl den Tod sowohl des Königs wie Mendelssohns (beide 1786) – und wurde aufmerksam von der damals 15-jährigen Rahel beäugt. Wichtiger für uns ist allerdings, dass er neben dem geplanten großen Werk über die „Preußische Monarchie“ noch ein kleines, ungeplantes schrieb, nämlich über Moses Mendelssohn als das philosophische Wunder von Berlin.

Damit soll nicht suggeriert werden, dass das damalige Berlin ein Eldorado für Juden war. Wie schmählich Friedrich der Große und sein Nachfolger sie behandelten und welches Ausmaß die antijüdische Publizistik, die militante und die bloß charakterlose, jeweils hatte, ist gut erforscht. Das Gegenbild zum liberalen jüdisch-deutschen Salon ist die von Achim von Arnim und Clemens Brentano 1811 gegründete „Deutsche Tischgesellschaft“, von der Philister, Frauen und Juden (auch getaufte) satzungsgemäß ausgeschlossen waren. Ob dies dem üblichen Antijudaismus, wie er vielerorts herrschte, entsprach oder ihn übertraf, sei dahingestellt. Es änderte jedenfalls nichts daran, dass es in Berlin seit dem demonstrativen Freundschaftsbund zwischen Lessing und Mendelssohn (1755) und seit Mendelssohns Begründung einer eigenen, über ganz Europa ausstrahlenden jüdischen Aufklärung stets eine Gegenbewegung gab, in der „Juden und Nichtjuden miteinander verkehrten, als wären die Schranken, die diese beiden Gesellschaften trennten, längst niedergerissen“, wie der jüdische Historiker Jacob Katz (1904–1998) schreibt.

Kulturgeschichtlich liegt es nahe, diese singuläre Berliner Emanzipationsbewegung, aus der nach Ansicht einiger Forscher der Weg des modernen Judentums in die säkulare westliche Gesellschaft resultierte, in zwei unterschiedliche Prozesse aufzuteilen. Der erste betrifft die rechtliche Entwicklung, die mit Christian von Dohms Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781 begann und mit dem von Wilhelm von Humboldt und dem Kanzler Hardenberg durchgesetzten Gleichstellungsedikt von 1812 ein veritables Ziel erreichte, wenn es denn Bestand gehabt hätte. Aber diesen Bestand gab es auch andernorts nicht, nicht einmal im Napoleonischen Frankreich.

Der zweite Prozess betrifft die bildungsgeschichtliche Entwicklung. Er beteiligte die emanzipationsbereiten Juden zunächst am Aufklärungsdiskurs und dann am neuen Evangelium der Individualitätskultur. Und er war für jemanden wie Rahel Levin die entscheidende Voraussetzung, eine eigene Sprache und damit einen selbstbestimmten Weg ins Freie zu gewinnen. Die Rede, mit der Rahel ihre Salonbesucher faszinierte und verhexte, war ja im sozialen System der Stadt nicht vorgesehen. Weder von jüdischer noch von christlicher, weder von höfischer noch von bürgerlicher Seite. Und ebenso wenig war sie im literarischen oder rhetorischen Kosmos der Stadt vorrätig, wo allerhand Nachahmbares herumschwirrte, aber eben keine Reflexion über sich selbst als öffentlich redende Jüdin.

Genau dieses selbstanalytische Idiom, das vom riskanten Bruch mit dem Herkommen ausging und sich traumwandlerisch sicher dem von Goethe formulierten individualistischen Imperativ (werde, der/die du bist) verschrieb, hat Rahel bald nach 1790, also gut 20-jährig, für sich entdeckt und, wie ihre Briefe zeigen, schnell zur Meisterschaft entwickelt. Damit aber war sie aus eigener Kraft in den Kreis jener Genies getreten, die, wie Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Ludwig Tieck oder Gottfried Schadow, damals in Berlin dasselbe weltverändernde Geschäft der Selbsterkundung betrieben wie die kleine Jüdin, die keine Angst vor preußischen Prinzen hatte.

Der Autor leitet das Projekt „Berliner Klassik“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Film „Rahel – Eine preußische Affäre“ läuft am heutigen Dienstag um 21 Uhr auf RBB.

Conrad Wiedemann

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