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Strom der Zeit. Im Jahr 1769 veröffentlichte Joseph Priestly "A New Chart of History" in horizontaler Darstellung.

© Aus Rosenberg/Graften (Library Company of Philadelphia)

Geschichtsforschung: Historisches Wissen am laufenden Band: Die Erfindung der Zeitleiste

Das Korsett der Bibel aufsprengen: Wie die Zeitleiste als grafisches Mittel vor etwa 250 Jahren die Geschichtsdarstellung eroberte.

Der eigene Ruhm macht Isaac Newton im Alter zu schaffen. Plötzlich interessiert sich das britische Königshaus dafür, wie der Präsident der Royal Society die Geschichte der Menschheit bis zur Schöpfung zurückverfolgt hat. Newton ist in Bedrängnis. Seine chronologischen Studien enthalten häretisches Gedankengut und waren nie für eine Veröffentlichung gedacht. In aller Eile stellt er eine bereinigte Kurzfassung zusammen. Sie kommt in den 1720er Jahren als Raubkopie auf den Markt und löst heiße Debatten aus: Hat der bedeutendste britische Mathematiker nichts Besseres zu tun, als über das Alter der Welt zu spekulieren?

Die Geschichtsschreibung ändert sich von Grund auf

Newtons Chronologie führt hinein in eine Epoche, in der Gelehrte Tag und Stunde der Schöpfung oder der Sintflut mit neuen Methoden exakt zu bestimmen versuchen. Zugleich aber schwindet die Hoffnung auf derart verlässliche Berechnungen, weil archäologische Ausgrabungen, fossile Funde und die Neubewertung historischer Quellen das chronologische Korsett der Bibel aufsprengen. Die Geschichtsschreibung ändert sich von Grund auf und mit ihr die grafische Darstellung der Geschichte, wie Daniel Rosenberg und Anthony Grafton in ihrem prächtig bebilderten Buch „Die Zeit in Karten“ schildern. An einer Fülle von Beispielen zeigen die beiden amerikanischen Historiker, wie Stammbäume, Tabellen und Chroniken die Geschichtsdarstellung über zwei Jahrtausende beherrscht hatten, ehe sich im 18. Jahrhundert eine Art der Visualisierung von Zeit durchsetzte: die moderne Zeitleiste.

Der Zeitstrahl ist aus Schulbüchern nicht mehr wegzudenken

Heutigen Betrachtern mag der vielseitig verwendbare Zeitstrahl mit den in regelmäßigen Abständen darauf eingezeichneten Daten selbstverständlich erscheinen. Als grafisches Mittel ist er aus Schulbüchern, Museen oder Zeitungen nicht mehr wegzudenken. Und doch handelt es sich dabei um eine vergleichsweise junge Erfindung. Erst vor 250 Jahren wurde die Zeitleiste zur bedeutendsten visuellen Metapher der Geschichtsdarstellung. Das großformatige, aufwendig gestaltete Buch von Rosenberg und Grafton hat einen Protagonisten, der hierzulande nur wenigen bekannt sein dürfte: den im Jahr 1733 geborenen Briten Joseph Priestley. Der Theologe und Naturforscher, ein Mitentdecker des Sauerstoffs, war ein glühender Verehrer Newtons. Von ihm übernahm er auch das Bild vom kontinuierlichen Strom der Zeit.

Die Uniformität der Zeit darstellen

In seinem physikalischen Hauptwerk, den „Principia“, hatte Newton geschrieben, die „absolute, wahre und mathematische Zeit“ verfließe vermöge ihrer Natur gleichmäßig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Ebendiese Uniformität der Zeit bildete den analytischen Rahmen von Priestleys richtungweisenden historischen Diagrammen. Und doch beantwortete Priestley die Frage nach dem Ganzen der Geschichte mit seinen grafischen Mitteln in völlig anderer Weise als sein berühmter Vordenker.

Geschichte war noch Heilsgeschichte

Newton verstand Geschichte noch vornehmlich als Heilsgeschichte. Nicht der Mensch mache Geschichte, sondern Gott, so seine Überzeugung, die er mit vielen zeitgenössischen Gelehrten teilte. Jahrzehntelang forschte er nach Übereinstimmungen zwischen der biblischen Geschichte, historischen und astronomischen Ereignissen. Mithilfe statistischer Methoden korrigierte er die durchschnittliche Herrschaftszeit der Regenten in den frühen Hochkulturen und kam zu wirklichkeitsnäheren Schätzungen für die Generationenfolgen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Maynard Keynes, der bei einer Auktion bei Sotheby's in London im Jahr 1936 ein Gutteil der newtonschen Manuskripte ersteigerte, bemerkte nach deren Lektüre, Newton sei keinesfalls der erste Aufklärer gewesen. „Er war der letzte Magier.“ Ein Suchender, der sich dazu auserwählt fühlte, Gottes Wirken sowohl aus dessen Schöpfung als auch aus der Heiligen Schrift zu deuten.

Der Fortschrittsgedanke fand Anhänger

Während Newton theologischen, historischen und alchemistischen Studien nachging, wurde er zur Ikone der neuzeitlichen Wissenschaft. Seine mathematischen Einsichten in den Lauf der Gestirne und die Natur des Lichts hatten die Grenzen des Wissens weit hinausgeschoben. In Anbetracht der verlässlichen Voraussagen seiner Theorie und im Zuge von Erfindungen wie Teleskop, Mikroskop oder Barometer gewann der Fortschrittsgedanke Anhänger in ganz in Europa.

Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins war etwa die 28-bändige Enzyklopädie, in welcher der Franzose Denis Diderot das gesamte Wissen seiner Zeit zu bündeln trachtete. Zur selben Zeit kam in London Joseph Priestleys „Chart of Biography“ auf den Markt. Rosenberg und Grafton bezeichnen dieses Diagramm als die „einflussreichste Zeitleiste des 18. Jahrhunderts“.

Abstände von 100 Jahren

Die Grafik ist einen Meter breit und 60 Zentimeter hoch und erstreckt sich über 3000 Jahre. Am unteren Rand sind die Jahreszahlen in Abständen von 100 Jahren eingetragen, dazwischen zeigen kleine Punkte die Jahrzehnte an. Sie bietet dem Leben von sage und schreibe 2000 berühmten Persönlichkeiten Platz. Das Ganze ist in sechs Kategorien unterteilt: ganz oben berühmte Historiker und Rechtsanwälte, darunter Redner und Kritiker, dann Künstler und Dichter, Ärzte und Mathematiker, Newton inklusive, schließlich Theologen und Metaphysiker und am unteren Rand Staatsmänner und Kriegshelden.

In dieser eindrucksvollen Geschichtsdarstellung – von 1765 an als Plakat und aufgewickelte Schriftrolle vertrieben – ist die unterste Kategorie der Politiker und Feldherren über die gesamte Spanne hinweg gleichmäßig dicht mit Persönlichkeiten bestückt. Hier gibt es keine leeren Räume. Denn, so Priestley: „Der Welt hat es an Konkurrenten um die Macht nie gemangelt, schon gar nicht in Zeiten, als Wissenschaften und Künste darniederlagen.“

Geschichte quasi in Aktion

Dagegen zeigen die darüber liegenden Zeilen eine klar erkennbare Tendenz: Das Mittelalter weist weniger bedeutende Wissenschaftler auf als die Renaissance und diese wiederum weniger als die Aufklärung. Gerade in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten sei alles voll mit ruhmreichen Personen, erläuterte Priestley. Und er hätte noch viel mehr hinzufügen können. „Diese Aussicht gibt uns eine gewisse Sicherheit, was die kontinuierliche Verbreitung und Erweiterung des Wissens betrifft.“

In seinem „New Chart of History“ fasste Priestley über denselben Zeitraum hinweg das Schicksal von 78 Imperien und Königreichen zusammen. Auch dieses Diagramm sollte dem Betrachter den Eindruck vermitteln, er erlebe Geschichte quasi in Aktion. Selbst Laien konnten auf einen Blick den Aufstieg und Niedergang ganzer Imperien verfolgen, was ihnen dadurch erleichtert wurde, dass Priestley die verschiedenen Felder koloriert hatte, um die Einheit von Imperien hervorzuheben.

Einfache Orientierung

Die Vorzüge der Zeitleiste gegenüber früheren Geschichtsdarstellungen waren offensichtlich: Was dem Einzelnen hier zur Orientierung in der Welt vermittelt wurde, war von bemerkenswerter Einfachheit. Dagegen versuchte Diderot mit seiner Enzyklopädie, hinter der eine ganze Akademie stand, das Weltwissen in seiner ganzen Komplexität einzufangen.

Für diejenigen, die die eigene Stellung im Lauf der Geschichte erkennen wollten, war Priestleys Gesamtschau mehr oder weniger tröstlich. Während sie auf eine lange Vergangenheit zurückblickten, durften sie darauf vertrauen, in einer Zeit zu leben, die mehr über die Welt wusste als jede vorhergehende Generation. Allerdings verdeutlichte der rechte Rand des Diagramms, dass die Hervorbringung neuen Wissens mit immer höherem Tempo voranschritt. Eine Beschleunigung, unter der die Gegenwart gleichsam zusammenschmolz.

Sie veraltet heute schneller denn je. Die Moderne spricht von „Gegenwartschrumpfung“. Sie begegnet ihr mit einer Musealisierung der Vergangenheit – und mit ausgezeichneten historischen Studien wie der von Rosenberg und Grafton, die die in den Hintergrund getretene, unscheinbare Zeitleiste, ein inzwischen alltägliches Mittel, riesige Mengen an Informationen elektronisch zu organisieren, bild- und kenntnisreich in den Vordergrund stellt.

Daniel Rosenberg und Anthony Grafton, „Die Zeit in Karten – Eine Bilderreise durch die Geschichte“, Verlag Philipp von Zabern 2015, 304 Seiten, 79,95 Euro

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