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Tembrock

© Rückeis

Günter Tembrock: „Alle Lebewesen haben ein Bewusstsein“

Günter Tembrock, der „Grzimek des Ostens“, wird 90 - und geht noch jeden Tag in „sein“ Institut. Der Forscher gilt als Mitbegründer der modernen Verhaltensbiologie.

Herr Tembrock, lieben Sie Brahms?

Ich liebe Musik. Wenn Sie aber den Film meinen, den konnte ich in der DDR nicht im Kino sehen, aber im West-Fernsehen.

Sie sind doch nicht nur der dienstälteste Forscher in Berlin, sondern auch Sänger.

Ich habe eine ausgebildete Stimme. Nach dem Krieg bekam ich die Genehmigung, als Bariton aufzutreten. Dann habe ich doch lieber als Biologe gearbeitet. Rückblickend war das auch gut so, denn das sängerische Niveau etwa von Dietrich Fischer-Dieskau hätte ich nie erreicht.

Fernsehstar sind Sie dennoch geworden.

Das Wort „Star“ mag ich nicht; gelegentlich wurde ich der „Grzimek des Ostens“ genannt. Von 1984 bis 1991 hatte ich eine eigene Sendung im Fernsehen, „Rendezvous mit Tieren“.

Ein Thema, das Sie im Fernsehen aufgegriffen haben, lautete: Können Tiere denken?

Sie können. Experimente zeigen, dass beispielsweise Menschenaffen Verhaltensweisen haben, die auf Denken beruhen.

Gilt das auch für Füchse, mit deren Sozialverhalten Sie sich bereits vor mehr als 50 Jahren beschäftigt haben?

Bei meinen Experimenten sollten Füchse Fleisch aus einem Kasten holen. Dazu mussten sie ungleich lange Hebel auf eine bestimmte Weise betätigen. Einige schafften es auf Anhieb, andere mussten immer wieder probieren. Ich fand auch heraus, dass Füchse zählen können, wenn auch nur bis sieben. Dennoch würde ich dabei nicht von Denken sprechen.

Was ist es dann?

Es ist eine „Begabung“. Ebenso ist es, wenn Füchse Futter, das sie nicht gleich essen können, im Boden verscharren. Sie können sich die Plätze merken. Einmal habe ich beobachtet, dass ein Fuchs ein Loch gegraben hatte, sein Sohn nahm das Fleisch weg, der Rüde machte das leere Loch dennoch zu. Eine Fee, ein Fuchsweibchen also, hat sogar versucht, den Zimmerboden aufzuscharren. Das konnte sie nicht erlernt haben, da sie gar nicht mit Füchsen aufgewachsen war.

In der DDR waren solche Erkenntnisse doch unerwünscht.

Die Verhaltensbiologie, die ich 1948 an der Humboldt-Universität begründet habe, war lange Zeit nicht als Wissenschaft anerkannt. Man folgte lieber den Thesen der russischen Forscher Pawlow und Lyssenko, die sagen, alles sei erworben und nichts angeboren. Demnach gäbe es kein biologisches Erbe. Einzig die Umwelt sollte das Verhalten bestimmen.

Was waren die Folgen?

Lange Diskussionen an der Uni. Die Verhaltensforschung wurde als „Biologismus“ diffamiert, meine Mittel wurden gestrichen, nach dem Mauerbau durfte ich nicht mehr reisen. Internationale Kollegen konnte ich nur treffen, wenn ich nach Moskau eingeladen wurde.

Haben Sie Kompromisse gemacht?

Ich bin immer offen gewesen. Als mich Bernhard Grzimek nach Frankfurt einlud, wurde mir in letzter Minute die Genehmigung verweigert. Ich sandte ein Telegramm an Grzimek: „Kann leider aus bekannten Gründen nicht kommen“. Grzimek protestierte bei den DDR-Behörden. Darauf kamen zwei Mitarbeiter zu mir und sagten, ich hätte vorgeben sollen, ich sei krank. Das lehnte ich ab.

Wie haben Sie das durchgehalten?

Ich bin hartnäckig und verfolge meinen Weg. Mein Motto heißt: Werde wesentlich. So habe ich mir eine eigene Welt an der Universität aufgebaut. Ich habe eine Bibliothek mit 5000 Bänden im Institut, zu Hause sogar 16000 Bände und eine Fossiliensammlung.

Das Naturkundemuseum, in dessen Westflügel Ihr Arbeitszimmer liegt, verdankt Ihnen einen besonderen Schatz, das Tierstimmenarchiv.

1951 habe ich die ersten Aufnahmen gemacht, darunter von einem Waldkauz. Heute sind es mehr als 110000 Aufnahmen. Es ist eine der drei größten Sammlungen der Welt. Die Aufnahmen werden von dem jetzigen Leiter der Sammlung Karl-Heinz Frommolt digitalisiert.

Was ist Ihre Lieblingsaufnahme?

Wie oft bin ich das schon gefragt worden! Es ist immer die, an der ich gerade arbeite. Eine besonders interessante Aufnahme stammt von Knut. Letztes Jahr am 7. Juni, meinem 89. Geburtstag, bin ich nach der Vorlesung mit meiner Frau in den Zoo gegangen. Plötzlich hörten wir klagende Laute. Knut war erstmals ohne seinen Pfleger im Freigehege und schrie. Als sein Pfleger kam, beruhigte er sich und gab ganz sanfte Töne von sich.

Eisbären gehören zu den gefährdeten Tierarten. Wie sehen Sie die Diskussion um den Artenschutz?

Das Aussterben von Arten gehört zur Evolution. Man muss berücksichtigen, dass stets verschiedene Stufen der Evolution nebeneinander existieren. Die höher entwickelten Arten können ohne die tieferen nicht existieren. Nur der Mensch ist aus diesem System ausgebrochen und hat Möglichkeiten geschaffen, die Welt radikal zu verändern. Hier bestimmen ökonomische, nicht ökologische Motive das Handeln.

Wie wirken sich menschliche Eingriffe aus?

Problematisch, da diese Eingriffe aus kurzfristigen ökonomischen Motiven geschehen. Die Natur reagiert dagegen langsam. So konnte sie sich nach erdgeschichtlichen Katastrophen, wie sie etwa zum Aussterben der Dinosaurier führten, stets regenerieren. Heute ist das eigentliche Problem die Bevölkerungsexplosion. So ist eine Situation entstanden, in der Krisen unvermeidlich sind.

Was wird geschehen?

Während wir uns unterhalten, sind wieder Hunderte von Kindern gestorben. Die Bevölkerungsexplosion ist mit einer Entwertung des Menschen verbunden. Wir sind Individuen, werden jedoch immer stärker durch äußere Umstände dominiert.

Was ist Bewusstsein?

Als Kriterium des Lebens unterscheidet es sich von allen anderen Phänomenen, die sich physikalisch-kausal erklären lassen. Auch die Quantenphysik ist dazu nicht in der Lage.Es geht um die Dualität von Teilchen, dem Körper also, und Welle, dem Geist. In dem Moment, wo wir das zu beschreiben versuchen, ist es schon weg. Stammesgeschichtlich lässt sich sagen, dass alle Lebewesen einen Zustand haben, den wir als Bewusstsein bezeichnen.

Haben auch Pflanzen ein Bewusstsein?

Ja, das Bewusstsein ist allem Lebendigen zugehörig. Denken Sie beispielsweise daran, wie raffiniert manche Pflanzen Insekten anlocken. Sie täuschen mit ihrer Blüte ein Weibchen vor und locken so die Männchen an. Alles was lebt, hat eine Eigenschaft, die sich nicht allein kausal logisch beschreiben lässt.

Gehört das nicht eher in den Bereich der Religion?

Religion ist Ersatz. Was wir nicht verstehen können, versuchen wir in der einen oder anderen Form zu beschreiben.

Sind Sie religiös?

Ich bin nach Ende des Krieges aus der Kirche ausgetreten.

Sie werden jetzt 90 Jahre alt. Wie empfinden Sie das Altern?

Ich fühle mich fit, freue mich über das Zusammensein mit meiner Frau. Ich fahre jeden Tag von meinem Haus in Lübars mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Institut zur Invalidenstraße. Ich halte Vorlesungen an der Universität, Vorträge an der Urania, schreibe wissenschaftliche Artikel. Ich spiele gerne Klavier oder singe, dabei kann ich gut meditieren.

Sie gehen auch immer noch auf Jagd nach Tierstimmen. Haben Sie einen Tipp, wie man sich so lange fit halten kann?

Weitermachen.

Sie haben am 1. November 1937 erstmals diese Universität, die damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität hieß, betreten. Sie haben hier studiert, über Laufkäfer promoviert und überFüchse habilitiert. Sie waren Direktor des Instituts für Verhaltensbiologie und Zoologie. Auch seit der Emeritierung vor 25 Jahren kommen Sie täglich in ihr Arbeitszimmer voller Aufzeichnungen, Bücher und Fotos. In welcher Weise denken Sie an „Ihre“ Universität?

Im Geiste der Humboldts und „Veritatem et Utilitatem“: Der Wahrheit und dem Nutzen.

Das Gespräch führte Paul Janositz.

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