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In einer Ausstellung hängt ein Filmplakat mit der Aufschrift "Le Juif Suss".

© picture-alliance/ dpa

"Handbuch des Antisemitismus" abgeschlossen: Fast 5000 Seiten zur Geschichte der Judenfeindschaft

Was zum Holocaust führte: Wolfgang Benz legt die Abschlussbände seines monumentalen „Handbuchs des Antisemitismus“ vor.

Sieben Jahre liegen zwischen dem Erscheinen des ersten und nun des achten und letzten Bandes. Das „Handbuch des Antisemitismus“, das Wolfgang Benz bereits 1990 in seinem Berufungsverfahren an die TU Berlin skizziert und gleich nach seinem Amtsantritt als Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung auf den Weg gebracht hat, ist mit dieser raschen Erscheinungsweise anderen, „gemächlicheren“ Vorhaben weit voraus, wie Benz jetzt bei der Präsentation der Bände 7 und 8 in der Akademie des Jüdischen Museums vergnügt anmerkte.

Vier Jahre nach seiner eigenen Emeritierung habe er damit „seine Verpflichtungen“ erfüllt. 4915 Druckseiten, den Angaben des Berliner Verlags De Gruyter zufolge – der die Reihe in seinem Imprint De Gruyter Saur veröffentlicht, denn vom früher eigenständigen Verlag K.G. Saur ist das Vorhaben gekommen –, liegen vor.

Allein über die Zahl der Autoren herrschte bei der Vorstellung Uneinigkeit, mindestens 500 müssen es wohl sein, die die weit über 2000 Artikel verfasst haben. Gegliedert ist das Reihenwerk nach Ländern, Personen, Theorien, Ereignissen und Institutionen; der jetzt vorgestellte Band 7 hat Film, Theater, Literatur und Kunst zum Thema, während der Abschlussband, wie es sich gehört, ausführliche Register und Verweise enthält, aber auch 46 Nachträge, deren Notwendigkeit sich im Laufe der Arbeit ergab.

Hinzu kommt ein Überblick des Gesamtherausgebers Benz zu den Entwicklungen und Phänomenen der Judenfeindschaft – gewissermaßen die Summe, die er selbst aus zweieinhalb Jahrzehnten Arbeit am Handbuch von der ersten Ideenskizze bis zum Abschluss der Reihe zieht.

Mit Klemperer verstehen, was alle gewusst haben

Das Handbuch versammele „Wissen ohne räumliche und zeitliche Begrenzung“, sagt Benz, doch der Schwerpunkt liege auf der jüngeren Vergangenheit bis zur unmittelbaren Gegenwart. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis des Kultur-Bandes bestätigt das, da findet sich gleich als zweites Stichwort „The Act of Killing“, ein Filmtitel von 2012, mit dem Verweis auf den Eintrag Holocaust. Abgehandelt wird dort aber nicht der Holocaust als solcher, sondern die US-Fernsehserie gleichen Titels von 1978. Man mag es als Problem der Edition ansehen, dass Bedeutsames neben Trouvaillen steht, das Große neben dem Kleinen, aber anders lässt sich eine alphabetische Ordnung nicht bewerkstelligen.

Die meisten Verweise bereits im Inhaltsverzeichnis betreffen den Eintrag „Jud Süß in der Literatur“, und damit ist auch die geradezu prototypische Figur des Antisemitismus benannt. Dass Uwe Johnsons vierbändiger Roman „Jahrestage“ einen eigenen Eintrag erhielt, liegt auf der Hand, doch erst dessen Analyse hinsichtlich der Behandlung der NS-Geschichte, die im Roman ständig erinnert und reflektiert wird, verdeutlicht dessen Rang als eines der literarischen Hauptwerke zum deutschen 20. Jahrhundert.

Der Eintrag „Klemperer-Tagebücher (1933–1945)“ wiederum zeigt ganz klar, dass es das angebliche Nicht-Gewusst-Haben um den Mord an den Juden, diese bequeme Haltung ab Mai 1945, nicht gegeben hat: Zitiert werden die wichtigsten Passagen zu Victor Klemperers zunehmender Kenntnis bereits Anfang 1942. Nicht nur er, alle haben es gewusst und viele sogar gesehen.

Der Film als Träger eingängiger antisemitischer Stereotype

Viel, sehr viel Platz räumt das Handbuch dem Film ein, da zeigt sich eine gewisse Disproportionalität, etwa zwischen den Einträgen zur NS-Filmpolitik plus NS-Filmproduktionen (16 Druckseiten) gegenüber der NS-Kunstpolitik (zwei Druckseiten). Andererseits war der Film das wichtigste Propagandamedium der Nazis und der eingängigste Träger antisemitischer Stereotypen.

Die gedruckten Medien verzeichnet Band 7 nur im Fall von Literatur, den „Publikationen“ insgesamt ist ein eigener, der vorangehende Band 6 gewidmet. Das zwingt bisweilen zu doppeltem Nachschlagen: Hans Grimms Roman „Volk ohne Raum“ von 1926 – der Titel verdichtet das Programm der Nazis zum Schlagwort – ist im Kultur-Band nicht zu finden, lediglich ein Verweis im Namensregister auf den Autor als Organisator der „Lippoldsberger Dichtertage“. Das klingt zunächst etwas abseitig, doch ist der Artikel mit seiner Aufzählung der an diesen Treffen teilnehmenden Dichter und Schriftsteller höchst aufschlussreich. Zu Grimms Buch selbst allerdings findet sich ein eigener Eintrag im Band „Publikationen“.

In erster Linie ein Buch für Bibliotheken

Prima vista ist dieser sechste Band des Handbuchs einheitlicher, strukturierter als der siebte, aber er hat es auch mit einem einfacher zu verschlagwortenden Gegenstand zu tun, eben den Veröffentlichungen, die alphabetisch nach Titel oder Verlagsname aufgeführt sind. Im praktischen Gebrauch dürfte es sich des Öfteren empfehlen, beide Bände parallel zur Hand zu nehmen.

Damit ergibt sich der Hinweis von selbst, dass das Handbuch als Ganzes in allererster Linie ein Werk für Bibliotheken ist, gleich ob wissenschaftlicher oder allgemeinbildender Art. Und, das sei hinzugefügt, ein Triumph des gedruckten Buches mit seinem steten Anreiz zum Blättern und Weiterlesen, ein letztes Aufleuchten gegen die elektronische Suchmaschine.
Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin/Boston, Verlag De Gruyter. – Bd 6: Publikationen. 2013, 834 S., 209 €. Bd. 7: Film, Theater, Literatur und Kunst. 2015, 619 S., 199,95 €.

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