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Am Ende verzweifelt. Kleist, der sich vor 200 Jahren umbrachte, schrieb, die Lektüre Immanuel Kants habe ihn in den Abgrund geführt. Radierung von Karl Bauer, um 1920.

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Hilfe für Suizidgefährdete: Auf Erden doch zu helfen

Wie kann man einen Suizid verhindern? Am Beispiel Heinrich von Kleists diskutieren Psychiater in Berlin Möglichkeiten der Vorbeugung.

„Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Der Satz aus Heinrich von Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike ist in vielen Beiträgen zitiert worden, die anlässlich des 200. Todestages des Dichters erschienen. Man kann sich gut vorstellen, dass die berühmte Briefstelle auch als Entlastung für die Angehörigen gedacht war: Selbst mit mehr Zuwendung hätten sie sein Leben nicht retten können, so wollte Kleist der Schwester wohl zu verstehen geben.

Schon Jahre vorher hatte der Dichter sich selbst als schwer verständlichen, „unaussprechlichen Menschen“ mit „wunder Seele“ charakterisiert, der unter einer „Gemütskrankheit“ leide. Dass Augenzeugen die letzten Stunden von Kleist und Henriette Vogel, seiner Begleiterin in den Doppel-Suizid, im Kontrast dazu als heiter beschreiben, könnte uns Heutige verleiten, unseren Frieden mit diesem „Freitod“ eines 34-Jährigen zu machen.

Mit der Suizid-Verhinderung befasste Psychiater dürfen das nicht. Es passte also sehr gut, dass auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im Berliner ICC nicht nur Sitzungen zum Thema Suizid stattfanden, sondern auch Heinrich von Kleist ein Thema war.

Uwe Gonther, Psychiater am Klinikum Bremen-Ost, warnte vor einer „simplen Glorifizierung“ der Doppel-Erschießung am Wannsee, die der gelernte Soldat Kleist so perfekt ausführte, dass sie auch heute noch die Öffentlichkeit fesseln und damit einen Hype auslösen könnte. Also genau das, was verantwortungsbewusste Medien nach dem Tod eines Prominenten vermeiden, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Sein Kollege Hinderk Emrich von der Medizinischen Hochschule Hannover diagnostizierte anhand der Briefe des Schriftstellers „eine Form der Melancholie, die durch Sinnfragen ausgelöst wurde“. Kleist schrieb, er sei durch die Lektüre Immanuel Kants „im Heiligtum meiner Seele erschüttert“ worden. Sie nahm ihm die Hoffnung auf objektive Erkenntnis und ließ sein Welt- und Glaubensbild einstürzen. Seine Selbsttötung betrachtet der Philosoph Jan Schlimme von der Uni Graz als eine Art Opfer, „mit dem er sich selbst beweisen wollte, dass er seinen Kinderglauben doch noch nicht verloren hatte“ und auf ein Jenseits hoffte. Aber musste er dafür sterben, wäre Hilfe nicht doch möglich gewesen?

„Eine absolute Suizid-Verhütung gibt es nicht“, dämpfte Manfred Wolfersdorf, Psychiater am Bezirkskrankenhaus Bayreuth, die Erwartungen. Beim Kongress zeigte sich jedoch, was beim Vorbeugen von Selbsttötungen möglich ist. Zunächst müsse jede Ankündigung ernst genommen werden, forderte der Stuttgarter Psychiater Elmar Etzersdorfer. „Man kann nur davor warnen, ‚echte' und ‚unechte' Drohungen unterscheiden zu wollen!“ Wenn ein Mensch schon mehrfach die Absicht geäußert habe, sich umzubringen, sei zudem auch eine plötzliche Aufhellung des Gemütszustands besorgniserregend. Kleist ist ein gutes Beispiel dafür.

Psychotherapeutische Krisenberatung wirkt, sie muss allerdings rasch beginnen, sich auf den Anlass konzentrieren und darf keine schnellen Wertungen vornehmen. „Fünf bis zehn Sitzungen reichen dann meist aus“, versicherte Etzersdorfer. Solange Suizidgefährdete für ein Gespräch zugänglich sind, wirke es auch. „Ein Patient, mit dem Sie reden, bringt sich nicht um“, sagte Wolfersdorf.

Auch Medikamente können schützen. Bei manchen Patienten beugt Lithium vor. Bei den Mitteln, die gegen Depressionen eingesetzt werden (Antidepressiva), ist das Bild dagegen verwirrend, wie Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München erläuterte. Bei jüngeren Patienten verstärken sie anscheinend die Gefahr einer Selbsttötung, bei älteren dagegen verringern sie sie. Heute, wo mehr Antidepressiva verschrieben werden als vor Jahrzehnten, gibt es weniger Suizide. „Der Rückgang hat schon in den 80er-Jahren begonnen, der Anstieg der Medikation erst in den 90ern. Das kann kein Mensch erklären.“ Noch immer sind es 11 000 Menschen, die sich jedes Jahr in Deutschland das Leben nehmen, 100 000 versuchen es.

Was die Krisenhilfe und die Psychotherapie betrifft, so sind Ermahnungen, gute Ratschläge, vorschneller Trost oder das Herunterspielen der Probleme erwiesenermaßen von Nachteil. Barbara Schneider von der psychiatrischen Uniklinik in Frankfurt am Main empfiehlt stattdessen, schädliche Gedanken zu verändern. Therapeut und Patient müssen klären, was hinter den niederschmetternden Begriffen steckt, die der Suizidgefährdete für seine eigene Situation findet.

Man denkt unwillkürlich wieder an Kleist und seine Aussage, er habe sein „höchstes Ziel“ verloren, das „Heiligtum seines Herzens“ sei getroffen, seine Seele sei „so wund“. Was genau bedeutete das alles für Kleist? Zu den Techniken, die die Verhaltenstherapeutin empfiehlt, gehören auch die Blockade zerstörerischer Gedanken und das Prüfen von Alternativen. „Wir sollten nicht leugnen, dass der Suizid eine Option ist. Aber wir müssen vermitteln: Du kannst etwas anderes tun als Dir das Leben zu nehmen!“

Zeit zum Nachdenken zu gewinnen kann lebensrettend sein. Untersuchungen beweisen, dass impulsive Menschen besonders gefährdet sind, sich das Leben zu nehmen. Von einer Veranlagung zur Suizidalität spricht Bronisch. Aus rein neurobiologischer Sicht könne man dabei keine Unterschiede ausmachen zwischen Menschen, die zu Aggressivität gegenüber anderen neigen und denen, die sich selbst gegenüber aggressiv sind. Kleists Penthesilea verkörperte sicher beide Neigungen.

Mehr im Internet unter:

www.suizidprophylaxe.de

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