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Hirnforschung: Der Mann ohne Gedächtnis

Henry Molaison wurde bei einer Operation ein Teil des Gehirns entfernt. Daraufhin konnte er sich nichts mehr merken und lebte 55 Jahre lang ausschließlich in der Gegenwart. Jetzt sollen die Reste seines Hirns untersucht werden.

Der Arzt, Dr. William Beecher Scoville, führte das Skalpell acht Zentimeter tief in beide Schläfenlappen. Er entfernte aus dem Gehirn von Henry Molaison unter anderem den größten Teil des „Hippocampus“. Scoville hoffte, mit dem radikalen Schnitt die schweren epileptischen Anfälle seines Patienten lindern zu können. In dieser Hinsicht war das chirurgische Experiment vom September 1953 sogar erfolgreich. Doch die Operation hatte noch andere Konsequenzen für den 27-jährigen Mann aus Hartford im US-Bundesstaat Connecticut. Als Molaison aus der Narkose erwachte, erkannte er das Krankenhauspersonal nicht wieder. Er verirrte sich auf dem Weg ins Bad. Nach dem Mittagessen vergaß er, was er eben noch auf dem Teller hatte. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass er überhaupt zu Mittag gegessen hatte.

Dabei funktionierte sein Langzeitgedächtnis tadellos. Molaison, der Ende vorigen Jahres im Alter von 82 Jahren in einem Pflegeheim in Windsor Locks (Connecticut) an Lungenversagen starb, kannte seinen eigenen Namen. Er wusste, dass sein Vater aus Louisiana stammte und seine Mutter Irin war. „Er wusste Bescheid über den Börsencrash von 1929, den Zweiten Weltkrieg und das Leben in den vierziger Jahren“, schrieb die „New York Times“ in einem Nachruf. Aber mit seinem Hippocampus hatte Molaison die Fähigkeit verloren, neue Erinnerungen abzuspeichern.

Gefangen in einer Zeitschleife

55 Jahre lang lebte dieser Mann in einer absoluten Gegenwart. Gefangen in einer Zeitschleife, „in der das Fernsehen immer wieder eine neue Erfindung war und Harry S. Truman auf ewig amerikanischer Präsident“, wie die US-Psychologin Joanna Schaffhausen schreibt. Jedes Mal, wenn Molaison vom Tod seiner Mutter hörte, durchlebte er seine Trauer neu. Er konnte keine Freundschaften schließen, weil er jedes neue Gesicht sofort wieder vergaß. „Es regt mich auf“, hat er selber einmal gesagt. „Gerade in diesem Moment frage ich mich: Habe ich irgendetwas Falsches gemacht? Sehen Sie, jetzt sieht alles klar für mich aus, aber was geschah gerade eben? Es ist so, als ob man aus einem Traum aufwacht. Ich erinnere mich nicht mehr.“

Die Geschichte von Molaison ist eine menschliche Tragödie. Zugleich entpuppte sie sich als ein seltener Glücksfall für Psychologen und Neurowissenschaftler. Denn sie verdanken diesem einsamen Menschen, dem ein Neurochirurg das Erinnerungsvermögen buchstäblich herausschnitt, fundamentale Erkenntnisse über die Struktur und Arbeitsweise des Gedächtnisses.

Bislang kannte man Henry Molaison allerdings nur unter seinen Initialen: „H.M.“. Erst jetzt, nach seinem Tod, wurde das Geheimnis seiner Identität gelüftet. Und die Forschung geht weiter. Dem Leichnam wurde das Gehirn entnommen und in Formalin eingelegt, um es zu konservieren. Jetzt soll es zum „Brain Observatory“ an der Universität San Diego gebracht werden. Dort wollen die Forscher das Hirn, in dem eine etwa faustgroße Lücke klafft, in rund 3000 feine Scheiben zerlegen, um bis auf die Ebene einzelner Zellen hineinzoomen zu können. Digitale Bilder sollen später im Internet öffentlich zugänglich gemacht werden. „Es ist etwas morbide“, gesteht der Projektleiter Jacopo Annese: „Irgendwie fühle ich mich wie ein Leichenbestatter. Aber ich ziehe es vor, die Sache etwas romantischer zu betrachten – so als schrieben wir eine neue Art von Biografie über eine ganz besondere Person.“

Er wurde geschickter - ohne sich an die Übungsstunden zu erinnern

1957 machte die Neuropsychologin Brende Milner gemeinsam mit dem Operateur Scoville den spektakulären Fall von Gedächtnisverlust in der Fachwelt publik. 1962 veröffentlichte sie eine Studie, die der berühmte Hirnforscher Eric Kandel von der Columbia Universität in New York noch heute als „einen der großen Meilensteine in der Geschichte der modernen Neurowissenschaften“ bezeichnet. Milner hatte Molaison zu Geschicklichkeitsübungen animiert. Dabei zeigte sich, dass er in motorischer Hinsicht durchaus noch lernfähig war. Er wurde sogar von Tag zu Tag geschickter, ohne sich auch nur an das kleinste Detail aus den vergangenen Übungsstunden erinnern zu können.

Milners Untersuchungen ebneten den Weg zu den beiden Gedächtnissystemen, die wir seitdem unterscheiden: zum einen das „explizite“ (Wissens-)Gedächtnis, das bewusste Erinnerungen an persönliche Erlebnisse speichert; und zum anderen das „implizite“, das unbewusste Veränderungen des Verhaltens umfasst. „Diese Unterscheidung bildete die Basis für alles, was in der Hirnforschung folgte; die Untersuchung des menschlichen Gedächtnisses und seiner Erkrankungen“, sagte Eric Kandel.

Mitte der sechziger Jahre trat Suzanne Corkin in Molaisons Leben. Sie begleitete ihn bis zum Schluss und vermittelte auch die Überführung seines Gehirns an das „Brain Observatory“. Als Kognitionsforscherin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge erkundete Corkin das Erinnerungsvermögen von H.M. bis in den letzten Winkel. Sie machte zum Beispiel die Beobachtung, dass das Gehirn über ein „topografisches Gedächtnis“ verfügt. Denn zu ihrer Überraschung konnte Molaison, nachdem er mit seinen Eltern umgezogen war, eine Skizze der neuen Wohnung zeichnen, fand sich dort mit der Zeit auch zurecht.

Beim Blick in den Spiegel sah er stets einen Fremden

Corkin schreibt jetzt an einem Buch über ihn. Titel: „Ein Leben ohne Gedächtnis“. Was war Henry Molaison für ein Mensch? Wie glücklich kann jemand sein, der sich an kein Erlebnis und keine persönliche Begegnung länger als eine halbe Minute erinnern kann? Corkin hat sich über solche Fragen viele Gedanken gemacht. „Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler sagen, dass einem Menschen ohne Gedächtnis auch die Identität fehlt. Und damit ein Bewusstsein seiner selbst.“

Doch Corkin widerspricht. Molaison habe feste Vorstellungen, Wünsche, Werte und Kindheitserinnerungen gehabt, die ihm ständig präsent gewesen seien. „Sein soziales Verhalten ist angemessen und höflich“, schrieb die Wissenschaftlerin vor einigen Jahren im Fachmagazin „Nature“. Molaison sei humorvoll gewesen und habe oft Scherze gemacht.

Nicht alle teilen Corkins Meinung. „Sie können sagen, was Sie wollen“, entgegnet Thomas Carew, Präsident der Gesellschaft für Neurowissenschaften. „Was H.M. verlor, war, wie wir heute wissen, ein entscheidender Teil seiner Identität.“ David Amaral von der Universität von Kalifornien in Davis gehört zu denen, die H.M. persönlich interviewten. „Es sprengt Ihre Vorstellungskraft“, erzählt er. „Er war damals schon in seinen Siebzigern. Und sagte ohne jedes Zögern, er habe dunkles lockiges Haar. Er erinnerte sich, wie er vor der Operation aussah. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass er alt geworden war. Stellen Sie sich das einmal vor: Jedes Mal, wenn Henry in den Spiegel guckte, sah er einen Fremden.“

Irene Meichsner

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