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Der Garten der Gerechten in Yad Vashem erinnert an Nicht-Juden, die Juden vor dem Holocaust gerettet haben.

© imago/UIG

Historische Forschung: Wer half Juden im Holocaust unterzutauchen?

Oft waren es alltägliche Gesten unter Nachbarn, die im Zweiten Weltkrieg zu Helferkarrieren führten. Aber nicht alle handelten uneigennützig.

Vor rund 80 Jahren begann mit dem Zweiten Weltkrieg für die deutschen Juden die letzte und schwerste Phase ihrer Verfolgung. Die Möglichkeit der Emigration war nun deutlich erschwert, bis im Herbst 1941 ein generelles Ausreiseverbot erlassen wurde. Ab diesem Zeitpunkt blieb für viele nur noch das Abtauchen in den Untergrund, um der Deportation zu entgehen. Einige wenige Deutsche fanden sich bereit, den Verfolgten in dieser Situation beizustehen.

Seit den 1970er Jahren versuchen historische, psychologische und soziologische Studien das Geheimnis dieser „altruistischen Retter“ zu lüften. Mittlerweile liegt eine beachtliche Bandbreite an wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema vor, doch wurden ihre Ergebnisse bislang nicht zusammengetragen. Dabei fördern die Sichtung der Literatur und die Auswertung von Helferbiografien interessante Einblicke in die Rahmenbedingungen des solidarischen Beistands zutage.

Fast alle Juden, denen die Ausreise aus dem Deutschen Reich nicht mehr gelang, kamen zwischen 1941 und 1945 ums Leben. Hatten 1933 noch über 560 000 Juden in Deutschland gelebt, so war ihre Zahl bis Oktober 1941 durch Flucht und Emigration auf 165 000 gesunken. Rund 130 000 wurden deportiert und in Vernichtungslagern ermordet. Auf dem Gebiet des Altreichs erlebten nur etwa 15 000 bis 25 000 Juden und Jüdinnen das Kriegsende. Darunter befanden sich vor allem jene, die aufgrund einer sogenannten Mischehe mit einem nicht jüdischen Partner von der Deportation ausgenommen waren, und jene, die in der Illegalität überlebt hatten. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 10 000 bis 15 000 Juden versucht hatten, sich durch das Abtauchen der Verschleppung in den Osten zu entziehen. Doch nur etwa 3000 bis 5000 Verfolgten gelang es, auf diese Weise tatsächlich zu überleben.

Im Falle einer Entdeckung drohten Strafen

Ohne die Unterstützung von jüdischen wie nicht jüdischen Freunden, Bekannten und auch Fremden wäre das Überleben in der Illegalität nicht möglich gewesen. Sie stellten Unterschlupf, Verpflegung, falsche Papiere, Medikamente und andere lebenswichtige Dinge zur Verfügung, warnten vor drohenden Razzien und zeigen Fluchtwege über die grüne Grenze auf. Die Zahl dieser Helferinnen und Helfer wird auf mehrere Zehntausend geschätzt. Über 4000 von ihnen sind bislang namentlich bekannt.

Im Falle einer Entdeckung drohten ihnen Strafen, die von Geldbußen und Verwarnungen bis hin zu Gefängnis, Zuchthaus oder KZ-Haft reichten. Todesstrafen wegen Hilfeleistungen wurden im Deutschen Reich nach heutigem Kenntnisstand nicht verhängt. Dennoch kamen auch einige Helfer infolge ihrer Taten, etwa aufgrund der Haftbedingungen, ums Leben.

Die bisherigen Forschungen deuten darauf hin, dass sich Helferinnen und Helfer im Altreich überdurchschnittlich oft aus der Alterskohorte der 40- bis 50-Jährigen rekrutierten, weiblich waren und der Mittelschicht angehörten. Viele waren verheiratet, hatten Kinder und arbeiteten als Angestellte und Selbstständige oder waren kleine Gewerbetreibende. Sie verfügten nicht nur über ausreichend finanzielle Ressourcen, sondern hatten auch die nötigen zeitlichen und räumlichen Kapazitäten, um die Betreuung von Hilfesuchenden mit den eigenen Lebensumständen in Einklang zu bringen.

Eine Form des Widerstands

Charakteristisch in dieser Hinsicht war etwa das Berliner Ehepaar Erika und Erich Büngener, die in den Räumen ihres während des Krieges geschlossenen Möbelgeschäftes vier jüdische Verfolgte beherbergten. Die soziale Position konnte im konkreten Einzelfall aber vollkommen nebensächlich sein. Immer wieder halfen auch Menschen, die gerade erst am Anfang ihres Erwerbslebens standen, sich in prekären Lebenslagen befanden und über keinerlei materielle Rücklagen verfügten.

Da die meisten oppositionellen Strukturen rasch zerschlagen und die wenigen nicht jüdischen Hilfsorganisationen, die sich um die Rettung jüdischer Verfolgter bemüht hatten, bis Ende der 1930er Jahre aufgelöst worden waren, entwickelten sich Ansätze zur Unterstützung ganz überwiegend aus privaten, informellen Kontakten. Ausgrenzung und Verarmung, willkürliche Drangsalierung und offene Gewalt bis hin zum (Selbst-)Mord von nahestehenden Personen mitzuerleben, setzte einen Prozess der Distanzierung vom NS-Regime in Gang. Zumindest bei den Helferinnen und Helfern führte dies zu vielfältigen Formen der Widerständigkeit. Bisweilen blieb die Distanzierung vom NS-Regime jedoch unabgeschlossen und brüchig. Einige partizipierten durch berufliche Tätigkeiten an der Verfolgung anderer Menschen, andere traten der NSDAP bei und passten sich in Sprache und Auftreten den Nationalsozialisten an. Anstelle einer Totalopposition lebten diese Helfenden in „parallelen Welten“.

Dem Entschluss zur Hilfe war in vielen Fällen oftmals ein längerer Prozess vorausgegangen, in dem niedrigschwellige Formen der Solidarität schrittweise eingeübt wurden – eine Entwicklung, die als „Helferkarriere“ beschrieben werden kann. Gewöhnliche Formen der zwischenmenschlichen Kooperation, etwa gegenseitige Besuche, kleine Besorgungen, die Pflege Kranker oder die Hilfe bei der Auflösung eines Haushalts, erhielten in diesem Zusammenhang widerständige Qualität. Einige Helferinnen und Helfer unternahmen schon in den 1930er Jahren erste Versuche, die Verhaftung von Verfolgten zu verhindern, die Entlassung inhaftierter Juden zu bewirken oder Gesuchte kurzfristig zu beherbergen.

Günstige Gelegenheiten und kleine Gesten

An diese Erfahrungen konnte diese Gruppe in den 1940er Jahren anknüpfen, als es darum ging, die Verschleppung in die besetzten polnischen Gebiete zu verhindern. Dem entscheidenden Entschluss zum dauerhaften Verstecken von Verfolgten waren in den meisten Fällen viele solcher Schritte vorausgegangen. Nur eine kleine Gruppe war in der Lage, sich unmittelbar und ohne eine „Denkphase“ zur Hilfe zu entschließen. Einen Automatismus von frühen Formen der Unterstützung hin zur Entstehung von späten Hilfeleistungen im Kontext der Deportationen gab es freilich nicht. Der Weg dorthin war nicht vorhersagbar und der Kreis derjenigen, die letztlich den Schritt zur Unterstützung wagten, klein.

In vielen Fällen resultierte die Hilfe nicht aus einem heroischen Willensakt, sondern war das Ergebnis einer Mischung aus Zufällen, günstigen Gelegenheiten und kleinen Gesten, durch die sich die Helfer schrittweise auf neues Terrain begaben. Die Journalistin Herta Zerna etwa, die ab Frühjahr 1943 die untergetauchte Margot Moses unterstützt hatte, betonte, dass sie nicht aufgrund herausragender charakterlicher Eigenschaften, sondern „durch unbedachte Höflichkeit“ zur Helferin geworden war. Sie hatte Margot Moses um 1939 bei einer Freundin kennengelernt. Am Kaffeetisch bot sie an, Moses könne sich bei ihr melden, falls sie einmal Hilfe benötigen sollte.

Die Berlinerin Herta Zerna, die ab Frühjahr 1943 die untergetauchte Margot Moses unterstützte; Bild von 1947.
Die Berlinerin Herta Zerna, die ab Frühjahr 1943 die untergetauchte Margot Moses unterstützte; Bild von 1947.

© Privatbesitz; Repro Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Zerna hatte es „als Floskel, aus gesellschaftlicher Höflichkeit“ gesagt, erinnerte sie sich später. Nicht im Geringsten habe sie geahnt, „was aus der Geste alles kommen sollte“. Um 1942 herum kam Moses auf das Angebot zurück und bat Zerna, ihr beim Verkauf illegal gehandelter Kleidungsstücke zu helfen. Zerna willigte ein. Später nahm sie Margot Moses in ihrer Wohnung auf. „So ist das offenbar mit dem leichtfertig eingegangenen Heldentum. Eins führt zum anderen … Wer A sagt, muß auch B sagen“, erinnerte sich Herta Zerna. Ihren Erinnerungen gab sie bezeichnenderweise den Untertitel „Ballade vom kleinen Widerstand oder: Die Banalität des Guten“.

Helfer verfolgten auch eigene Interessen

Aufgrund der Einbettung in ein Geflecht aus alltäglichen Gesten und Gewohnheiten wurde die Entscheidung zum Beistand von vielen ehemaligen Helferinnen und Helfern später nicht als heldenhafte Tat, sondern als Selbstverständlichkeit empfunden. Das zu betonen bedeutet nicht, Hilfeleistungen abzuwerten. Ihre öffentliche Ehrung bleibt ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen Erinnerungskultur, auch wenn die Untersuchung des Hilfeverhaltens unser Verständnis des Guten in neue Richtungen lenkt. Denn der Mikrokosmos der Hilfepraxis fördert nicht nur ganz alltägliche soziale Mechanismen, sondern auch eine Reihe von Widersprüchen und Brüchen im Verhalten der Helfer zutage.

Personen, die jüdische Verfolgte unterstützten, taten dies in der einen Situation und lehnten es in einer anderen ab. Sie begehrten durch ihre Hilfe gegen das NS-Regime auf, doch profitierten sie zuweilen auch von ihm. Sie unterstützten die Verfolgten trotz der Gefahr, ihren eigenen Lebensweg massiv zu beeinträchtigen, und waren doch alles andere als Heilige, wenn sie im Rahmen der Unterstützung auch ihre eigenen Interessen verfolgten. Finanzielle Gegenleistungen, die Anstellung der Untergetauchten als unbezahlte Arbeitskräfte oder günstiges Dienstpersonal, emotionale und physische Grenzüberschreitungen bis hin zu sexueller Gewalt – all diese Aspekte gehörten zum Panorama des Beistands, ebenso wie aufrichtige und sich im Zuge der Hilfe vertiefende Freundschaften und Liebesbeziehungen.

Was lernen wir aus den Erfahrungen?

Seit ihren Anfängen ist die Helferforschung eng mit dem Wunsch nach einem würdigen Gedenken des Geschehenen verbunden. Doch welche Rolle kann die Geschichte der Helferinnen und Helfer in der historischen und politischen Bildung des 21. Jahrhunderts spielen? Was genau lernen wir aus ihren Erfahrungen? Welche Einsichten können dazu beitragen, neuen Dynamiken der Gewalt etwas entgegenzusetzen?

[Die Berliner Historikerin und Soziologin Susanne Beer ist Autorin des auf ihrer Dissertation basierenden Buches „Die Banalität des Guten. Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte 1941-1945“ (Metropol-Verlag Berlin, 2018).]

Frühzeitige, niedrigschwellige Formen der Solidarität und die dadurch entstehende Vernetzung mit anderen hilfsbereiten Menschen bildeten die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, dass einige Menschen in der Situation akuter Not während der Deportationen in der Lage waren, die lebensrettende Entscheidung zum Verstecken untergetauchter Juden und Jüdinnen zu treffen. Die Vorstellung, es komme bei einer Erziehung zur Zivilcourage vor allem auf das „richtige“ Denken und humanistische Überzeugungen an, die man durch die Präsentation historischer Vorbilder festigen könne, muss insofern neu geprüft werden.

Nicht abstrakte moralische Auseinandersetzungen mit dem Guten und Bösen in zurückliegenden historischen Epochen hatten den Entschluss zur Hilfe maßgeblich vorangetrieben, sondern konkrete, gelebte Erfahrungen mit den Opfern von Verfolgung im eigenen Alltag.

Susanne Beer

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