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Scharfes Urteil. Die Historikerin Schüler-Springorum und ihre Kollegen Baberowski (Mitte) und Wildt.

©  Mrozek

"Historisches Quartett": Verreißen mit Vergnügen

Fast wie im Fernsehen: Berliner Historiker streiten im Literaturhaus über die Werke der Kollegen. Sie beweisen: Wissenschaftliche Buchbesprechungen können auch unterhaltsam sein.

Die akademische Rezension ist ein Genre, das bisher tapfer der Eventkultur trotzt. Kein Wunder, denn Buchbesprechungen von Wissenschaftlern gelten als pedantisch, umständlich und sind meist wenig unterhaltsam. Dabei sind sie die eigentliche Qualitätskontrolle der Geisteswissenschaften. Für Akademiker ist das Rezensionswesen denn auch spannend wie ein Krimi. Mit wenigen Worten lassen sich Racheanschläge verüben, intellektuelle Schlachten schlagen, lebenslange Feindschaften begründen. Aber taugt das auch zur außerwissenschaftlichen Abendgestaltung?

Den Beweis erbringen derzeit drei Berliner Fachhistoriker. Unter dem Motto „Was ist denn hier passiert?“ laden Stefanie Schüler-Springorum, Jörg Baberowski und Michael Wildt in regelmäßigen Abständen ins Literaturhaus. Dort richten sie vor zahlendem Publikum über die Werke ihrer Kollegen – ganz in der Tradition des verstorbenen Oldenburger Geschichtsprofessors Ernst Hinrichs, der bereits vor Jahren ein „Historisches Quartett“ gründete. Am Freitagabend war es wieder so weit, der Saal in der Fasanenstraße war gut gefüllt. Das professorale Tribunal sitzt auf einer mit Bürolampen dekorierten Bühne hinter schlichten Bistrotischchen. Darauf liegt schwere Kost: Den Anfang macht das Buch „Die Toten habe ich nicht gefragt“. Der Band enthält Interviews, die David P. Boder unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit Überlebenden des Holocaust führte.

Von den postum auf Deutsch erschienen Tonbandprotokollen des Psychologen zeigt sich das Trio tief beeindruckt. Keine Selbstverständlichkeit, denn die mit Interviews arbeitende „Oral History“ ist in der Zunft noch immer höchst umstritten. Umso mehr wiegt es, wenn der Gewaltexperte Baberowski zugibt, die Gespräche seien nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Begeisterung lösen auch die Memoiren des 2010 verstorbenen Kollegen Tony Judt aus. Das Wort „wunderbar“ fällt rekordverdächtig oft.

Weniger gnädig geht die Jury mit den Büchern ihrer Zeitgenossen um. Die Geschichte Europas „Der Preis der Freiheit“, geschrieben vom neuen Chef des Münchner Instituts für Zeitgeschichte Andreas Wirsching, hat einen schweren Stand. In dem Überblick kämen Menschen kaum vor. Europa werde nicht hinreichend definiert und man erfahre überhaupt wenig Neues, so die harsche Kritik an dem Werk, das der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler jüngst regelrecht bejubelte. Als die Sprache auf den Bielefelder Emeritus kommt, der für die neue Historikergeneration offenkundig immer noch als übermächtige Vaterfigur zur Abgrenzung taugt, hat man denn auch zeitweise den Eindruck, dass dessen Rezension gleich mit zur Debatte steht.

Stefanie Schüler-Springorum lobt immerhin den Mut des Münchners zur interkontinentalen Vogelperspektive, doch Baberowski bleibt unnachgiebig: Das ehrgeizige Ziel vieler Historiker, die Geschichte des ganzen Kontinents zu schreiben, sei schon deswegen zum Scheitern verurteilt, weil niemand mehr als drei Sprachen spräche. „Der Preis ist die Oberflächlichkeit!“, donnert er. Schlechter noch kommt der Schriftsteller Javier Marías weg, dessen neuen Roman „Die sterblich Verliebten“ Baberowski als belletristische Ergänzung des Programms ausgewählt hatte, dann aber „unglaublich geschwätzig“ findet. Wildt wünscht dem Spanier einen Drehbuchautor als Berater.

Mit Carolin Emcke darf die Autorin des letzten zu besprechenden Werkes selbst auf dem Podium Platz nehmen. Zögernd betritt die Kriegsreporterin die Bühne und sagt, sie fände die Situation „etwas Furcht einflößend“. Doch Emckes Jugendgeschichte „Wie wir begehren“, ein vielschichtiges Sachbuch zwischen Coming-out und Coming-of-Age, das sich als Sittengeschichte der alten Bundesrepublik lesen lässt, versöhnt die Rezensenten so sehr, dass sie vor lauter Lob die Inhaltsangabe vergessen – was die Autorin dankenswerterweise selbst nachholt.

Mit dem Gast hat sich das Trio zum Quartett addiert und damit formal seinem Fernsehvorbild angenähert. Nur der für Kritikerquartette wie Historiker obligate Streit will nicht so recht aufkommen – es herrscht eine fast schon harmonische Einstimmigkeit des Urteils. Sachbuchrezensionen haben durchaus Unterhaltungswert. Doch fehlt dem Quartett ein Reich-Ranicki. Hans-Ulrich Wehler, übernehmen Sie!

- Regelmäßig im Literaturhaus, Fasanenstraße 23, Eintritt 5 Euro. Die nächsten Termine finden sie hier.

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