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© dpa

Hochschulen: Bewerber im Chaos

Immer mehr Studiengänge schotten sich mit einem Numerus clausus ab. Trotzdem bleiben Plätze frei. Doch die Politik lässt sich Zeit.

46 000 Bewerbungen auf nur 3500 freie Studienplätze hatte die Universität Bochum im Wintersemester zu verzeichnen. Es ist bekannt, dass sich jeder Studieninteressierte im Durchschnitt auf drei bis vier Fächer bewirbt. Und dann kommen die Jugendlichen hinzu, die sich gleich an mehreren Hochschulen bewerben in der Hoffnung, irgendwo einen Treffer zu landen. In ganz Deutschland herrscht an vielen Universitäten ein Bewerberchaos.

Früher war alles einfacher: Es gab nur wenige Fächer mit einem bundesweiten Numerus clausus (NC). Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund hatte alles im Griff. Bei ihr musste man sich bewerben und die ZVS erteilte die Zulassungsbescheide. Und wer an seiner Wunschhochschule keinen Studienplatz bekam, wurde auf irgendeine andere Hochschule verwiesen. Auf diese Weise kamen viele Westdeutsche an ostdeutsche Hochschulen, die sie freiwillig als Studienort nie gewählt hätten.

Jetzt ist alles anders. Der bundesweite NC hat die Schwindsucht im letzten Stadium. Dafür breitet sich der örtliche Numerus clausus wie die Metastasen bei Krebskranken aus. Inzwischen sind nach einem Überblick der Hochschulrektorenkonferenz von 8014 grundständigen Studiengängen, die mit dem Staatsexamen, dem Diplom oder dem Magister abschließen, 4118 mit örtlichen Zulassungsbeschränkungen versehen – das entspricht 51,4 Prozent. Und bei den zweistufig angelegten neuen Studiengängen mit dem Bachelor- und Masterabschluss sind von 4108 Studiengängen sogar 2420 mit einem örtlichen NC belegt – das entspricht 58,9 Prozent. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Für die Schulabgänger stellt sich die Situation schon jetzt als Chaos dar. Wer sich an einem fremden Hochschulort einschreiben will, braucht eine Vorlaufzeit für die Wohnungssuche. Aber etwa an der Eliteuniversität Heidelberg hat sich die Zulassung zunächst erfolgloser Bewerber in mehreren Nachrückverfahren bis in den November hingezogen, Vorlesungsbeginn war am 15. Oktober. Doch die Eliteuniversität wollte ursprünglich nur die Besten mit einem Notendurchschnitt von 1,4 in Jura zulassen, bekam aber mit diesen Anforderungen die Studienplätze nicht besetzt, wie die ZVS auf Anfrage mitteilte.

Zurzeit kann niemand in Deutschland sagen, wie viele Studienplätze in den NC-Fächern am Ende frei bleiben, nur weil es angesichts der Mehrfachbewerbungen mit einem bundesweiten Nachrichtenaustausch über noch freie Studienplätze nicht klappt. Weder die Hochschulrektorenkonferenz noch die Kultusministerkonferenz hat einen Überblick. Der Wissenschaftsrat sähe es mit Schrecken, wenn sich eines Tages herausstellen sollte, dass zehn oder 20 Prozent der an sich freien Studienplätze nicht besetzt werden können, nur weil man die Zulassungspolitik bundesweit nicht in den Griff bekommt. Der Wissenschaftsrat wird erneut im Mai die Politiker drauf hinzuweisen, dass spätestens mit dem Jahr 2010 ein Studentenandrang ohnegleichen auf die Hochschulen zukommt und dass dieser Andrang zu organisieren und angemessen zu finanzieren ist.

Zu dessen Bewältigung braucht man jeden freien Studienplatz. Als Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber und Baden Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger die Diskussion um den Studentenberg im Jahr 2005 starteten, sagten sie: Nichts wäre verheerender, als wenn Schüler nach der Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre anschließend vor verschlossenen Hochschulen stehen und ein halbes oder ein Jahr warten müssen, bis sie einen Studienplatz erhalten. Die von den Politikern gefeierte und von den Eltern verdammte Schulzeitverkürzung würde zum Possenspiel. In Hessen, Niedersachsen und Hamburg hat dieses Thema bereits eine entscheidende Rolle im Wahlkampf gespielt. Denn der Stress in der Oberstufe ist erheblich, weil der bisher verlangte Stoff nicht entrümpelt wird, sondern vollständig in 12 statt 13 Jahren bewältigt werden muss.

Trotz dieser Warnsignale lassen sich die Länder Zeit. Erst mussten sich die Kultusminister einstimmig auf eine neue Zulassungsorganisation einigen. Das geschah im Frühjahr 2007. Sie sind auf eine Stiftungsidee verfallen, in der die bisherige ZVS mit ihrem Konkurrenten, der allein in der Zulassung von Ausländern erprobten „uni-assist E.V.“, zusammenwirken soll. Die Kultusminister favorisieren die in Zulassungsschlachten erprobte ZVS, die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) setzt lieber auf Assist. Allein dieser Streit trägt nicht gerade zur Beschleunigung bei. Jetzt mucken die Finanzminister wegen der Kosten. Im Frühjahr wird sich zeigen, ob die Ministerpräsidenten der 16 Länder in der Lage sind, einen Staatsvertrag über die Stiftungslösung zu unterzeichnen. Danach müsste dieser Staatsvertrag von allen 16 Länderparlamenten ratifiziert werden, was angeblich anderthalb Jahre in Anspruch nehmen muss. Zum Wintersemester 2008/2009 soll erst einmal in den Fächern Jura und Betriebswirtschaft ein neues Zulassungsverfahren erprobt werden. Dann folgt eine ausführliche Auswertung. Alle vom Tagesspiegel befragten Experten, darunter der ZVS-Chef Ulf Bade, die Generalsekretärin der HRK Christiane Gaehtgens und der leitende Senatsrat in der KMK, Roland Thierfelder, rechnen damit, dass der erste ordentliche Durchlauf für ein neues Zulassungsverfahren erst zum Wintersemester 2010/2011 starten kann. Dann befindet sich Deutschland mitten im Hauptandrang der Studenten.

Die überdehnte Ratifizierungszeit ist nicht die einzige Warteschleife kurz vor Beginn des Studentenbergs. Hinzu kommt die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master. Die neuen Studiengänge erfordern einen erheblich höheren Betreuungsaufwand als die herkömmlichen. Wenn diese Reform nicht nur auf dem Papier gelingen soll, muss einiges getan werden. Die Staatsexamens- und Diplomstudiengänge leiden unter hohen Abbrecherquoten von 30 bis 50 Prozent und überlangen Studienzeiten. Der Wissenschaftsrat hat daher empfohlen, den Betreuungsaufwand für die neuen Studiengänge um 15 bis 20 Prozent zu verbessern. Doch an dieser Front wird gemauert, weil das sehr viel Geld kosten würde. Außerdem wird die Reform durch eine komplizierte Rechtslage belastet.

Bundeswissenschaftsministerin Schavan fordert: „Die Kapazitätsverordnung muss weg.“ Das ist leichter gefordert als getan. Man überlegt, ob man die Curricularnormwerte mit Bandbreiten versieht, damit die so unterschiedlichen neuen Studiengänge je nach den Anforderungen angemessen betreut werden können. Eine verbesserte Betreuung erfordert eine andere Politik als die bisher vom Bundesverfassungsgericht verlangte erschöpfende Nutzung der Kapazitäten.

Soll man das benötigte Geld für bessere Studienbedingungen ausgeben oder die Schaffung neuer Studienplätze, um den Studentenberg bewältigen zu können? Das ist die Kernfrage. Berlins Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner überraschte die Öffentlichkeit vor kurzem mit der Aussage, dass er die Priorität bei der Einrichtung neuer Studienplätze sieht. Annette Schavan erklärte im Tagesspiegel, durch die Exzellenzinitiative in der Forschung und den Hochschulpakt würden auch mit Bundeshilfe zehntausend neue Stellen für Wissenschaftler geschaffen. „Darüber hinaus ist die Frage des Betreuungsverhältnisses Sache der Länder.“ Im Klartext heißt das: Die von der SPD regierten Länder sollen ihre Hochschulen vollstopfen, die CDU-regierten Länder dagegen werden die Studiengebühren dazu nutzen, um die Lehre und die Betreuungssituation zu verbessern.

Wie auch immer die Rangelei ausgehen wird: Um die verfassungsrechtliche Problematik wird niemand herumkommen. Der jetzt ausufernde NC bewegt sich am Rande des verfassungsrechtlich Zulässigen. Ein Grundrecht – die Freiheit der Berufswahl gehört dazu – kann nur aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ein solches Gesetz gibt es bisher nicht. Nur Schavan könnte Klarheit schaffen. Sie müsste ihre Gesetzgebungskompetenz für Zulassung und Abschlüsse nutzen. In diesem Gesetz könnte stehen, dass die Reformstudiengänge eine 15 bis 20 Prozent bessere Betreuung erfordern.

Das wäre eine saubere Rechtsgrundlage, anders als die juristisch schwachbrüstigen Zielvereinbarungen behelfen, die der HRK vorschweben. Würde dieses Gesetz angefochten, hätte das Bundesverfassungsgericht endlich die Möglichkeit, die seit 1972 geltende NC-Rechtsprechung im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens zu modifizieren. Darauf warten die Hochschulen seit Jahrzehnten.

Uwe Schlicht

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