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Hält mitreißende Vorlesungen: die britische Expertin für Epigenetik Leonie Ringrose.

© Matthias Heyde

Humboldt-Universität zu Berlin: "Gene durch Lebensweise verändern – das ist Quatsch"

Biologie-Professorin Leonie Ringrose ist Expertin für Epigenetik - und klärt über Missverständnisse rund um unser Erbgut auf.

Frau Professor Ringrose, was erforscht die Epigenetik?
In der Epigenetik geht es um die Regulation von Genen. Stellen Sie sich eine Raupe und einen Schmetterling vor. In beiden Stadien ist die DNA des Insekts gleich, es sieht jedoch komplett anders aus. Das heißt, seine Erscheinungsform, der sogenannte zelluläre Phänotyp, hat sich verändert, die DNA aber nicht. Teilweise wird dieser Phänotyp auf der Ebene von langfristigen Änderungen in der Genregulation aufrechterhalten. Wir untersuchen die Mechanismen, auf denen solche epigenetischen Veränderungen beruhen, und wollen verstehen, wie diese auf molekularer Ebene funktionieren.

Wie hängen Genetik und Epigenetik zusammen?
Die Gesamtheit unserer DNA nennen wir Genom. Man kann sich die DNA als eine sehr spezielle Sprache aus vier Buchstaben vorstellen, die genau wie jede andere Sprache Informationen enthält. Unter dem Epigenom versteht man Moleküle, die sich auf der DNA befinden und die dafür verantwortlich sind, welche Gene wann in welchem Ausmaß aktiv oder inaktiv sind. Bildlich gesprochen könnte man sagen, dass das Epigenom den DNA-Text formatiert und festlegt, welche Informationen in welchen Situationen wichtiger sind als andere – wie im Fall der sich verwandelnden Raupe.

Um die Epigenetik gibt es viel Medienrummel. Viele Artikel versprechen, dass wir unsere Gene durch unsere Lebensweise gezielt steuern und epigenetische Veränderungen sogar vererben können. Stimmt das?
Nein, das ist absoluter Quatsch! Dieser Hype ging vor einigen Jahren los, als eine bekannte Zeitschrift einen Artikel darüber veröffentlicht hat, dass unsere Gene angeblich nicht unser Schicksal sind und unsere Lebensweise epigenetische Folgen für unsere Kinder hat. Danach haben viele Journalisten blind mitgezogen. Dieses Wunschdenken beruht nicht auf wissenschaftlichen Fakten. Die Forschung ist längst nicht so weit! Insbesondere in Bezug auf das menschliche Epigenom nicht. Außerdem gibt es nach wie vor nur einen genetischen Code, und das ist die DNA.

Dennoch hat die Epigenetik ein immenses Potenzial, es gibt erste Medikamente auf epigenetischer Basis. Was sind die spannendsten Forschungsbereiche?
Tatsächlich gibt es wenige Pharmafirmen, die nicht über ein Portfolio zu epigenetischen Medikamenten verfügen. Das ist allerdings nicht mein Gebiet. Was mich seit einiger Zeit fasziniert, ist das zelluläre Gedächtnis. Jeder Mensch hat zwischen 200 und 300 verschiedene Zelltypen. Viele dieser Zellen teilen sich regelmäßig. Durch ihr Erinnerungsvermögen wird aus einer Leberzelle eine neue Leberzelle und keine Hirn- oder Nervenzelle. Zwischenzeitlich wissen wir, dass unsere Zellen auch über ein epigenetisches Gedächtnis verfügen. Das bedeutet, dass auch das Epigenom von der Mutter- zu der Tochterzelle übertragen wird und somit ebenfalls relevant dafür ist, dass aus einer Zelle eine Tochterzelle vom selben Zelltyp entsteht.

Unsere Zellen können sich sogar Lebenserfahrungen merken. Wie ist das möglich?
Denken Sie zum Beispiel an die Leber. Sie ist in der Lage, Alkohol abzubauen. Vielleicht ist Ihnen schon einmal eine Art Trainingseffekt aufgefallen. Das hat möglicherweise epigenetische Gründe: Während des Alkoholabbaus reagiert ein bestimmtes Gen in der Leber, spezielle epigenetische Marker stabilisieren dann womöglich seine Aktivität. Wenn sich die Zelle jetzt teilt, ist die Tochterzelle identisch. Das bedeutet, dass das Gen, das wichtig für den Alkoholabbau ist, auch noch aktiv sein kann, lange nachdem Sie Alkohol getrunken haben. Deshalb wird das nächste Bier oder das nächste Glas Wein schneller abgebaut. Das ist ein hypothetisches Beispiel. Es gibt aber auch konkrete Beispiele für das epigenetische Gedächtnis anderer Gene.

Vererben lassen sich solche Erfahrungen aber nicht, sagen Sie?
Eine Vererbung solcher epigenetischen Veränderungen erscheint auf den ersten Blick vielleicht naheliegend. Aber: Ein Kind entsteht aus Eizelle und Spermium und nicht aus Leberzellen. Die Frage ist also, ob eine Lebenserfahrung auch die Keimzellen verändert. Da das Kind aus einer einzigen verschmolzenen Zelle entsteht, trägt jede Tochterzelle dieselbe epigenetische Information. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Zelle beispielsweise die epigenetische Information der alkoholabbauenden Leberzelle hat. Das wäre für den Organismus des Kindes kaum dienlich, sondern würde ganz im Gegenteil wahrscheinlich zu vielen Problemen führen.

Das leuchtet ein! Eine solche Vererbung ist also generell ausgeschlossen?
Nein. Ob epigenetische Informationen transgenerationell vererbt werden, ist eine sehr relevante Frage. Viele Wissenschaftler arbeiten daran. Was wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen können, ist, dass diese Art der Vererbung wahrscheinlich sehr selten vorkommt. Der weitaus größte Teil der epigenetischen Veränderungen wird in den Keimzellen gelöscht, wahrscheinlich, weil die meisten dieser Veränderungen nicht vorteilhaft sind. Dennoch gibt es einige Beispiele, die bei Tieren auf eine solche Form der Vererbung hindeuten. Wir können aber noch nicht sagen, ob der Weg dieser Veränderungen wirklich über die Epigenetik führt.

Woran forschen Sie zurzeit?
Aktuell arbeite ich zusammen mit einem Physiker daran, das zelluläre Gedächtnis mathematisch zu beschreiben. Seit ungefähr zehn Jahren wissen wir, dass das Erinnerungsvermögen von Zellen flexibel ist. Ein Gen, das epigenetischer Kontrolle unterliegt, kann demnach nicht nur aktiv oder inaktiv, sondern beispielsweise auch mehr oder weniger aktiv sein. Zudem kann es sehr schnell und dynamisch zwischen diesen verschiedenen Zuständen schalten. Ich denke, darin liegt ein wichtiger Schlüssel, um das ganze System zu verstehen. Letzteres kann man nur mit Hilfe der Mathematik angemessen erfassen. Ich habe ein mathematisches Modell entwickelt, dass meine Lieblingsart von epigenetischer Regulation spezifisch beschreibt. Jetzt gilt es, diese Hypothese empirisch zu prüfen.

Die Mathematik scheint es Ihnen angetan zu haben. Aktuell planen Sie auch ein interdisziplinäres europäisches Netzwerk.
Ja, mit dem Projekt „Epigenetics meets Mathematics“ will ich Mathematiker, Physiker und Biologen aus ganz Europa zusammenbringen. Das Netzwerk wollen wir auch dazu nutzen, um Doktoranden auszutauschen, um so eine Generation von Mathebiologen auszubilden. Die Biologen haben dann hoffentlich keine Angst mehr vor Formeln, und die Physiker gehen gern ins Biolabor. Am IRI Life Sciences will ich zudem künftig mit Forschenden der Charité und des Max-Delbrück-Centrums zusammenarbeiten und so Synergien zwischen medizinischer und biologischer Grundlagenforschung schaffen.

Wie sind Sie überhaupt zur Biologie gekommen?
Schon seit meiner Schulzeit reizt mich, dass es in der Biologie um die Suche nach beweisbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen geht. Dieses Interesse an den Naturwissenschaften rührt sicherlich auch daher, dass ich aus einer Familie von Geisteswissenschaftlern und Künstlern stamme. Meine Mutter hat Philosophie studiert und war Lehrerin. Mein Vater war auf der Kunsthochschule und lange Zeit als Theaterschauspieler tätig. Auch meine beiden älteren Schwestern haben großes Talent für Musik, bildende Kunst und Theater. Mit der Biologie hatte ich einen Bereich, der ganz meiner war.

Trotz dieser Entscheidung stehen auch Sie gern auf der Bühne, zum Beispiel beim Improtheater und auch als Dozentin. Lehren Sie gerne?
Dass ich hier so viele Lehrveranstaltungen habe, finde ich großartig! Für die Einführung in die Zellbiologie habe ich die Versuche zusammen mit meinem Mann, einem Bioinformatiker, selbst bearbeitet. Wir haben DNA aus Bananen und aus der Mundschleimhaut extrahiert, die Zellteilung haben wir bei Knoblauchzellen angeschaut. Wir hatten den Geruch noch wochenlang im Haus! Gerade am Anfang ist es wichtig, auch die Faszination für sein Fach weiterzugeben.

Leonie Ringrose ist Professorin für Quantitative Biologie der Eukaryotischen Zelle am IRI Life Sciences. Vor ihrem Wechsel an die Humboldt-Universität zu Berlin war die britische Expertin für Epigenetik Gruppenleiterin am Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien. Sie hat in Norwich studiert und in Heidelberg am European Molecular Biological Laboratory promoviert.

Eine mitreißende Online-Vorlesung von Leonie Ringrose findet sich hier.

Das Interview ist erstmals in der Beilage der HU zum Start des Wintersemesters 2016/2017 erschienen.

Katja Riek

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