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Weitblick. Die Lithographie des Berliner Künstlers Wilhelm Loeillot von 1845 zeigt das Berliner Bürgertum auf der Flaniermeile vor dem Universitätsgebäude.

© HU/Kustodie; Scholz

Humboldt-Universität zu Berlin: Wie die Menschheit zu bilden sei

Wilhelm von Humboldt folgte einer Reformidee Immanuel Kants – aber nur teilweise.

Dass mit dem Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht auch Berlin als Hauptstadt eine wachsende Bedeutung zukam, versteht sich von selbst. Das blieb auch für die Wissenschaft nicht ohne Folgen. Bereits 1700 wurde eine Akademie der Wissenschaften gegründet, die unter Friedrich dem Großen zu europäischem Ansehen gelangte. Sie betrieb eine Sternwarte, einen Botanischen Garten, förderte die experimentelle Forschung und regte anatomische Studien an. Die kamen dem wachsenden Ruhm des Lazarett-Krankenhauses Charité zugute. Was aber fehlte, war eine Universität.

Dem Staat schien sie nicht zu fehlen, denn er hatte Universitäten in Königsberg und Frankfurt/Oder. Wittenberg, Halle und Leipzig waren nicht weit. Die Universität Helmstedt hatte einen guten Ruf und die angesehene Reformuniversität Göttingen war gut zu erreichen. 1742 war auch Breslau als Landesuniversität hinzugekommen, die mit einem katholischen Schwerpunkt erhalten blieb.

Doch wann immer Pläne für Berlin ins Gespräch kamen, regte sich Widerstand in der Bevölkerung. Man wollte in der rasch wachsenden und mit vielen Problemen kämpfenden Stadt nicht auch noch die als zügellos verschrienen Studenten beherbergen. Die Bürger waren der Ansicht, das führe nur zu einem weiteren Anstieg unerwünschter Schwangerschaften. Überdies war nach dem Tod des großen Königs 1786 sein bigotter Nachfolger Friedrich Wilhelm II. allenfalls an einer Theologischen Lehranstalt interessiert.

In Frankreich schnitt man gerade den alten Zopf der Universitäten ab

Als nach dem Tod des Königs 1797 die Forderung nach einer Universität immer lauter wurde, waren sich die Gelehrten nicht einig, an welchem Modell man sich orientieren solle: Im revolutionären Frankreich war man gerade dabei, den alten Zopf der Universitäten abzuschneiden und an ihre Stelle „Hohe Schulen“ treten zu lassen, die fach- und berufsorientiert arbeiten sollten.

Dem hatte Immanuel Kant 1798 in seiner letzten Schrift, dem Streit der Fakultäten, eine zwar ohne revolutionären Umbau auskommende, aber im Inneren durchgreifend reformierte Universität entgegengestellt. Sie sollte in Medizin, Recht und Theologie primär Berufsausbildung betreiben, aber in der ihnen vorgelagerten Philosophischen Fakultät eine breite, auf Weltoffenheit und Weltkenntnis zielende Schule des Selbstdenkens bieten.

Doch schon vorher hatte Kants höchst eigenständiger Bewunderer, der junge Wilhelm von Humboldt, ein liberales Staatsmodell entworfen und im Geiste Goethes und Schillers Ideen für eine Bildung der Menschheit skizziert. Sie sollte dem Individuum einen größeren Spielraum einräumen. Einige von Humboldts Texten, deren Modernität einem noch heute die Sprache verschlagen können, blieben unveröffentlicht, kursierten aber im Kreis seiner Berliner Freunde.

1802 ging der Jurist und Diplomat, der zum wegweisenden Sprachforscher werden sollte, als Gesandter Preußens beim Vatikan nach Rom. Dort weitete sich der Horizont seiner klassischen und künstlerischen Bildung – und der seiner internationalen Erfahrung. Besucher kamen mit Berichten von seinen außerordentlichen Fähigkeiten nach Berlin zurück.

Humboldt sollte die Schulen und Universitäten neu ordnen

So ist es nicht verwunderlich, dass die fortschrittlichen Vertreter des preußischen Adels, die in ihrem von Napoleon besetzten Land eine Chance zu umfassenden Reformen erhielten, auch an Humboldt dachten. Er verfügte über gute Beziehungen zu Friedrich von Hardenberg, und als seine Tätigkeit als Botschafter beendet war, übertrug ihm Freiherr vom Stein 1809 die Verantwortung für die Neuordnung der Schulen und Universitäten.

Diese Chance ergriff Humboldt mit Weitblick, diplomatischem Geschick und äußerster Energie, gerade auch weil er bei den konservativen Teilen des Adels umstritten war. In seiner kurzen Amtszeit setzt er das wohl größte bildungspolitische Reformwerk der deutschen Geschichte ins Werk. Ihm war bewusst, dass gerade weil der Staat „am Abgrund stehe“, die Sorge für die Bildung die wichtigste Aufgabe darstellt. Was Wilhelm von Humboldt in wenig mehr als einem Jahr auf den Weg brachte, ist schier unglaublich, auch wenn er kaum mehr als Entwürfe für das Schul- und Prüfungswesen verfasste. Doch es gelang ihm, dem in der inneren Emigration in Königsberg residierenden König Friedrich Wilhelm III. die Gründung der Berliner Universität abzuringen. Er setzte eine in Teilen autonome Finanzierung durch und machte so die Gründung im Jahre 1810 möglich.

Mit ihr realisierte er eine vollkommen neue Idee der Universität – und er fand Personen, die sich für sie begeisterten. Sein für die Berufung der Professoren leitender Grundsatz war: Man suche hochbegabte junge Forscher, die den Studierenden im Alter nahestehen – und alles Weitere werde sich „ankandieren“.

Für alle galt eine Maxime: Autonomie

Dieses Glück hatte er insbesondere mit dem Theologen und Platon-Forscher Friedrich Schleiermacher, der als Leiter der „Einsetzungskommission“ für die Berufung der ersten Professoren-Generation verantwortlich war. Nach Fichte und den Philosophen Engel und Erhard hatte auch Schleiermacher 1808 eine kluge und umsichtige Denkschrift zur Universitätsgründung verfasst, an der er sich orientieren konnte. Aber die entscheidende Innovation brachte erst Humboldt ein.

Seine Idee setzte eine entschlossene Abkehr von der Berufshochschul-Konzeption der Franzosen voraus und realisierte von Kants Entwurf nur das, was der sich von der Philosophischen Fakultät erhofft hatte – freilich unter Einbeziehung der berufsbildenden Fächer. Sie sollten im Geist der Forschung und der Selbstbildung des Einzelnen betrieben werden und zwar so, dass auch die Studierenden am forschenden Lernen teilhaben konnten. Von den Professoren wurde erwartet, dass sie in „Einsamkeit und Freiheit“ ein Beispiel für individuelle Eigenständigkeit geben. Die „Autonomie“ war somit nicht nur ein Ideal für die institutionelle Verfassung, sondern auch eine Maxime für alle Mitglieder der Universität.

Die von Wilhelm von Humboldt konzipierte Neugründung hatte einen beispielhaften wissenschaftlichen Erfolg, auch weil ihr gelang, die aufstrebenden experimentellen Naturwissenschaften zu integrieren und Modelle für die Kooperation mit der Akademie und anderen wissenschaftlichen Partnern zu realisieren. Sie wurde zum Vorbild für die Erneuerung der Universitäten nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt.

Die sogenannte Bologna-Reform hat damit ein definitives Ende gemacht. Im Kontrast zu der von ihr ins Werk gesetzten bildungsfernen Verschulung ist die Idee der Einheit von Forschung und Lehre, die wir Wilhelm von Humboldt verdanken, attraktiver als je zuvor.

Der Autor ist Senior-Professor am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Artikel ist erstmals in der Beilage der HU zum Start des Wintersemesters 2016/2017 erschienen.

Volker Gerhardt

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