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„Ground Zero Spirit“. Unter diesem Titel wurde das Foto weltberühmt. Es wurde am Nachmittag des 11. September in den Trümmern des World Trade Center aufgenommen.

© Ullstein

Ikonografie des 11. Septembers: Gewalt, Panik, Flagge

Einige wenige Motive prägen die Ikonografie der Anschläge vom 11. September. Ein französischer Forscher untersuchte die Bebildung der Ereignisse und sieht Parallelen zum 2. Weltkrieg.

Was haben Sie vom 11. September gesehen? Vermutlich stehen Ihnen unmittelbar vor Augen: Der aufquellende Feuerball. Das Einsacken der Türme. Die graue Aschewolke in den Straßen Manhattans. Feuerwehrmänner, eine amerikanische Flagge. Die Artikel zum bevorstehenden zehnten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center kämen im Prinzip ohne Bebilderung aus. Denn das Bildmaterial ist weithin bekannt. Die brennenden und dann einstürzenden Türme liefen weltweit in Endlosschleife auf allen Fernsehkanälen. Kein historisches Ereignis dieses Jahrtausends hat ein derart kollektives Bildgedächtnis geschaffen wie 9/11.

Unmittelbar daran beteiligt sind auch die Printmedien, wie der französische Fotografiehistoriker Clément Chéroux in einer kürzlich auf Deutsch erschienenen Studie zeigt. „Diplopie. Bildpolitik des 11. September“ lautet der Titel des Buches. Der Name ist für Chéroux Programm: Der augenheilkundliche Begriff der Diplopie (aus dem Griechischen: diploos für „doppelt“, opos für „Auge“) beschreibt eine Sehstörung, bei der ein einzelner Gegenstand in Form von zwei Bildern wahrgenommen wird. In der Tat schien man beim Blick in die Zeitungen doppelt zu sehen: brennende Türme, wohin man auch schaute.

In seiner Analyse hunderter Titelblätter insbesondere amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften versucht Chéroux, die mediale Repräsentation der Attentate sichtbar zu machen. Er zeichnet nach, wie in den Medien ein nahezu identisches Narrativ der Ereignisse entworfen wurde. Es gebe in den ersten Tagen nur sechs verwendete Bildtypen: 41 Prozent aller Titelseiten zeigten Bilder des Feuerballs nach der Explosion des zweiten Flugzeuges. Es folgten Bilder der Rauchwolke am Himmel Manhattans (17 Prozent), der Gebäuderuinen (14 Prozent), des Flugzeugs kurz vor dem Einschlag (13,5 Prozent), der Massenpanik auf den Straßen (sechs Prozent) sowie das Bild dreier Feuerwehrleute, die auf den Trümmern eine amerikanische Flagge hissen (3,5 Prozent). Blickwinkel und Einstellung der Motive variierten kaum.

Jede dieser Bildkategorien, beobachtet Chéroux, entspreche einem der Höhepunkte des Ereignisses und bilde damit eine „bedeutungsvolle narrative Sequenz“. Es ergebe sich ein „relativ traditionelles Erzählschema: überraschender Angriff, Gewalt des Zusammenstoßes, allgemeine Panik, Furcht vor einem Ereignis, dessen nähere Umstände unbekannt sind, Zusammensturz und schließlich erneutes Wiedererstarken“.

So druckte die „Los Angeles Daily News“ am 12. September eine Explosion, am 13. eine Ruine und am 14. eine Flagge. Die Ähnlichkeit der visuellen Erzählsequenzen steigere sich dadurch, dass von 400 Titelseiten nur vier das Pentagon und keine einzige die Absturzstelle des Flugzeugs bei Pittsburgh abbildeten. Das Monolithische des Mediendiskurses zeigt für Chéroux die Schwierigkeit, die Vielschichtigkeit des Ereignisses sichtbar zu machen.

Die Bedeutungskraft der Bilder verstärkte eine zentrale Referenzgröße: die im amerikanischen Gedächtnis fest verankerte Ikonografie um Pearl Harbor. Der Bezug auf die Geschichte der USA sei „einer der wichtigsten Topoi der medialen Berichterstattung über den 11. September“. „Second Pearl Harbor“, titelte etwa die „News-Gazette“. Mehrere andere Überschriften sprachen von „Infamy“ (Schande) – eine Anspielung auf die Rede Franklin D. Roosevelts, die er 1941 einen Tag nach dem japanischen Angriff auf die amerikanische Pazifikflotte hielt.

Noch stärker jedoch sei die „visuelle Rhetorik“ gewesen, die derartige historische Analogien herzustellen versuchte. Chéroux verweist auf den Bezug zwischen zwei berühmten Bildern. Da ist zunächst die „Ikone von Iwojima“, ein Schnappschuss während der blutigen – und für den Vormarsch gegen Japan strategisch wichtigen – Schlacht um die kleine Pazifikinsel Iwojima, aufgenommen am 23. Februar 1945 von Joe Rosenthal. Das Foto zeigt eine Gruppe amerikanischer Marines, die für ein geplantes Erinnerungsfoto ihre Flagge hissen. Es ist eine der meistreproduzierten Fotografien in der Geschichte der USA und symbolisiere für die Amerikaner „gleichzeitig den Sieg über Japan und die Revanche für Pearl Harbor“, sagt Chéroux.

Als der Fotograf Thomas Franklin am Nachmittag des 11. September durch sein Teleobjektiv plötzlich erblickt, wie auf den Trümmern des World Trade Center drei Feuerwehrmänner dabei sind, eine Fahne aufzustellen, gelingt ihm ein Coup. „Als die Flagge emporsteigt, erkenne ich die Ähnlichkeit mit dem Bild von Iwojima“, berichtet er später. Am Tag danach findet sich sein Bild ausnahmslos in der internationalen Presse wieder und erfährt unter dem Titel „Ground Zero Spirit“ die volle mediale Aufmerksamkeit. Es sei „eine der wichtigsten Fotografien, die er je gesehen habe“, wird der damalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani zitiert.

Symbolkraft. US-Soldaten errichten 1945 auf Iwojima die Nationalflagge. Foto: AFP
Symbolkraft. US-Soldaten errichten 1945 auf Iwojima die Nationalflagge. Foto: AFP

© AFP

Abgesehen von den formalen Ähnlichkeiten der Motive – der diagonale Fahnenmast, die Flagge, die Männer in Uniform – ist es vor allem der symbolische Gehalt, der zwischen den historischen Ereignissen eine Verbindung herstellen soll. „Die Wiederholung visueller Schemata aus der Vergangenheit folgte einem erprobten psychologischen Mechanismus – man versteht besser, was man schon kennt – und half so, die historische Tragweite der Situation besser zu erfassen“, schreibt Chéroux.

Man hätte – wie einige europäische Medien – auf ähnliche Bilder aus anderen Zusammenhängen verweisen können: etwa die Brandkatastrophe von San Francisco (1906), die Explosion der Hindenburg (1937) oder die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (1945). Dass man in den USA den Bezug zu Pearl Harbour wählte, mache deutlich, „dass man die Absicht hatte, über den 11. September als Kriegshandlung zu berichten“, bei der man „auf ein vergleichbares Ende hoffte“. Tatsächlich rief George W. Bush wenig später den „Krieg gegen den Terror“ aus.

Chéroux versucht nicht, aus der Bildpolitik des 11. September ein verkürztes historisches Verständnis der USA abzuleiten. Ihm geht es weniger um Geschichte als um das Gedenken. Der Boom von Gedenkfeiertagen in den Medien, der auch diesen Artikel einschließt, das Bedürfnis, Bilder zu Ikonen für historische Ereignisse zu erheben und sie in ihrer ständigen Reproduktion kollektiv abrufbar zu machen, schafft einerseits Orientierung und Interpretation für unvorstellbare Ereignisse wie das vom 11. September 2001. Andererseits wird in dieser Fetischisierung der Fotografien auch eine Ästhetik des Terrors ansichtig, die ebenso faszinierend wie grauenvoll ist.

„Nein, die Geschichte wiederholt sich ganz offensichtlich nicht, sie wird vielmehr von den Medien wiederholt“, schreibt Chéroux. Wir wollen sie sehen, die einstürzenden Türme, nochmal und nochmal. Doch die Wiederkehr des visuell immer Gleichen, die Lust am Bild, schluckt, wie eine Aschewolke, das Unsagbare des Ereignisses und seiner Folgen: die Trauer, den Schmerz, den Tod – der Opfer der Anschläge in den USA, aber auch derjenigen, die in seiner Folge am anderen Ende der Welt mit Bomben bekriegt wurden.

Clément Chéroux: Diplopie. Bildpolitik des 11. September. Aus dem Französischen von Robert Fajen. 136 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Konstanz: Konstanz University Press 2011. 19,90 Euro.

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