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In der Gruppe. Experten warnen davor, Schüler mit Förderbedarf häufig außerhalb der Klasse zu unterrichten.

© picture alliance / dpa

Individuelle Förderung in der Schule: Jeder lernt so gut er kann

"Individuelle Förderung" gehört seit dem Pisa-Schock von 2001 zu den Zauberwörtern der Schulpolitik. Doch flächendeckend durchgesetzt sind die neuen Konzepte noch lange nicht, zeigt jetzt eine neue Studie.

Der Mathelehrer stellt eine Aufgabe, eine Handvoll Schüler meldet sich, einer kommt dran und schreibt die Lösung an die Tafel. Die anderen schreiben in ihren Heften mit. Ob auch alle die Aufgabe und die Lösung verstanden haben, zeigt sich in der nächsten Klassenarbeit. Dass Lehrkräfte sich schon vor der Leistungskontrolle vergewissern müssen, von wem der Stoff wie weit verstanden wird, war lange keine Selbstverständlichkeit in deutschen Schulen. Erst nach dem Pisa-Schock von 2001, als sich herausstellte, dass rund 20 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland grundlegende Fähigkeiten im Lesen und in Mathematik fehlen, begann eine breite Diskussion über die „individuelle Förderung“.

„Bis heute aber ist die individuelle Förderung das am wenigsten eingelöste Versprechen der Schulgesetze“, sagt Ute Erdsiek-Rave (SPD), ehemalige Schulministerin von Schleswig-Holstein und Leiterin des „Netzwerks Bildung“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Zwar ist sie mittlerweile in allen Schulgesetzen bundesweit mit Ausnahme von Baden-Württemberg verankert, wie aus einer am Montag in Berlin vorgestellten Expertise des Erziehungswissenschaftlers Christian Fischer (Universität Münster) für die SPD-nahe FES hervorgeht (hier). Es fehle jedoch vielerorts an einheitlichen Begriffen und ausgereiften Konzepten für die individuelle Förderung.

Weg von der Defizitorientierung, hin zu den Potenzialen

Im ersten Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der ersten Pisastudie konzentrierten sich die Schulen darauf, insbesondere Schüler aus sozial benachteiligten Familien, mit Migrationshintergrund und Lern- und Leistungsdefiziten verstärkt zu fördern, sagt Christian Fischer. Dass dies bereits gelingt, zeigte im vergangenen Dezember Pisa 2012. Die Fortschritte der deutschen Schüler im internationalen Vergleich waren vor allem der Verbesserung im unteren Leistungsspektrum zu verdanken. Nun müsse man von der verbreiteten Defizitorientierung wegkommen und mehr die Potenziale betonen – und mehr für die besonders Leistungsstarken tun.

Lehrkräften fehlen die diagnostischen Instrumente

Der ganzen Spannbreite der Vielfalt im Klassenzimmer werde der Unterricht noch immer nicht gerecht: Es gelte etwa, Mädchen und Jungen geschlechtersensibel zu fördern, die soziale und kulturelle Herkunft sowie die Leistungsmotivation zu berücksichtigen. Einzelne Kinder wiederum könnten mathematisch begabt sein, aber eine Lese- und Rechtsschreibschwäche haben. Hinzu kommt die zunehmende Inklusion von Schülern mit Behinderungen. Um den individuellen Förderbedarf zu ermitteln, fehle es den Lehrkräften aber häufig an den geeigneten diagnostischen Instrumenten, sagt Fischer. Sie müssten ebenso wie die didaktischen Förderkonzepte viel stärker als bisher in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften etabliert werden.

Schüler sollten nicht dauerhaft etikettiert werden

Mit der richtigen Diagnose ist es nicht getan: Lehrkräfte müssten eine dauerhafte Etikettierung von Schülern etwa als „Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ vermeiden, fordert der Erziehungswissenschaftler. Auch wäre es falsch, Schüler ständig aus der Klasse herauszunehmen, um sie zu fördern. Vorbildlich sei ein Unterricht im Klassenraum, in dem stärkere mit schwächeren Lernern im „Peer tutoring“ voneinander profitieren und Schüler sich in Projekten je nach ihren Fähigkeiten Aufgaben mit unterschiedlichen Niveaus suchen.

Fischer empfiehlt Schulen auch mehr Teamarbeit, um die Herausforderung der individuellen Förderung zu bewältigen. „Multidisziplinäre Teams“ setzen allerdings voraus, dass in den Schulen ausreichend Lehrkräfte, Sozialarbeiter und Förderlehrkräfte vorhanden sind. Burkhard Jungkamp, Bildungsstaatssekretär in Brandenburg, plädiert für Lehramtsstudierende und Quereinsteiger in den Lehrerberuf, die als Unterrichtsassistenten bei der individuellen Förderung helfen könnten.

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