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Neue Gemeinschaft. Die Regelschule soll sich so ändern, dass sie auch für behinderte Schüler gut ist (hier Schülerinnen einer integrativen Schule in Frankfurt/Main).

© dapd

Inklusion an Schulen: Holprig zum Miteinander

Die Regelschule tut sich weiter schwer mit behinderten Schülern. Es fehlt an Personal, Wissen und geeigneten Gebäuden.

Als der junge Lehrer Albert Schwarz zum Schuljahrsbeginn zwei behinderte Schüler in seine Klasse aufnimmt, ist er überzeugt, dass davon alle profitieren. Die beiden Jugendlichen – Paul ist geistig zurückgeblieben, Steffi gelähmt – dürfen voll am Schulleben teilnehmen. Mitschüler, Lehrer und Eltern sollen den Umgang mit dem Anderssein lernen. Doch die Ernüchterung lässt nicht lange auf sich warten. Es fehlen die nötigen Schulhelfer, die Steffi aufs Klo begleiten und Paul zum zehnten Mal eine Aufgabe erklären. Die Schule ist zudem nicht barrierefrei, und schließlich boykottieren auch noch die Eltern der begabteren Schüler den Versuch.

Die Geschichte stammt aus dem Film „Inklusion – Gemeinsam anders“ (Regie: Marc-Andreas Borchert) und lief im Mai in der ARD. Tatsächlich erzählt der Film realistisch, welche Schwierigkeiten das hehre Ziel der Inklusion – die von den Vereinten Nationen verordnete volle Teilhabe von Behinderten am gesellschaftlichen Leben – machen kann. Vor allem, wenn sie über Nacht und praktisch ohne finanzielle Mittel gelingen soll. Denn trotz wohlwollender Lehrer und neuer Rechtslage kommt die Umsetzung der Inklusion in Deutschland nur mühsam voran.

Bundesweit haben rund 490 000 Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf, seit zehn Jahren steigt die Zahl. Bis zu drei Viertel dieser Schüler haben eine Lernbehinderung oder sind sprachlich, sozial oder emotional unterentwickelt. Nur 22 Prozent von ihnen werden an allgemeinen Schulen unterrichtet, die meisten in Grundschulen, die Masse an speziellen Förderschulen.

Mit seinem selektiven Bildungssystem sei gerade Deutschland herausgefordert, meint Marianne Demmer, stellvertretende Bundesvorsitzende der Pädagogengewerkschaft GEW. „Hier herrscht noch mehrheitlich die Meinung, dass Behinderte nicht in die Regelschule gehören.“ In Skandinavien und Kanada lernen bereits bis auf wenige Ausnahmen alle Schüler gemeinsam: „Es geht nicht darum, wann ein Kind zu behindert ist, um zur Schule zu gehen. Es geht darum, was wir tun müssen, damit es teilnehmen kann“, wie Sibylle Hausmanns vom Inklusionsnetzwerk „Gemeinsam leben, gemeinsam lernen“ es ausdrückt.

Seit über drei Jahren haben auch in Deutschland alle Schüler das Recht, eine Regelschule zu besuchen, unabhängig davon, wie schwer sie behindert sind oder wie langsam sie lernen. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Deutschland im März 2009 ratifiziert hat, fordert in Artikel 24, dass Schulen sich auf die Bedürfnisse von Behinderten einstellen sollen und Schüler nur noch in absoluten Ausnahmefällen auf Förderschulen schicken dürfen. Allerdings können die Schüler mit Behinderungen die Inklusion nicht individuell einklagen – was unter Juristen umstritten ist.

Gehversuche in Richtung Inklusion laufen wacklig an

Immerhin haben sich die Länder hektisch in Bewegung gesetzt: Mecklenburg-Vorpommern verbot gleich zum neuen Schuljahr, Erstklässler in Förderschulen anzumelden. „Plötzlich saßen da 27 Kinder vor einem, fünf davon mit Förderbedarf, und keiner von uns hatte eine einzige Fortbildung gemacht“, erzählt Annett Lindner von der Lehrergewerkschaft GEW. Brandenburg und Berlin waren entschlossen, Förderschulen möglichst schnell zu schließen.

Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) überarbeitete ihre Empfehlung zur Sonderpädagogik aus dem Jahr 1994. Darin hatte zwar bereits gestanden, dass mehr Schüler an allgemeinen Schulen speziell betreut werden sollten. Schließlich schaffen 75 Prozent der Schüler an einer Sonderschule keinen Hauptschulabschluss. Doch der Nutzen der Sonderschule wird von der KMK nicht grundsätzlich infrage gestellt, auch nicht in der neuen Empfehlung. Das dürfte sogar dem Wunsch mancher Eltern entsprechen, die ihr behindertes Kind lieber in einer speziellen Einrichtung sehen.

Dass die Gehversuche in Richtung Inklusion so wacklig anliefen, lag nach Meinung der Behinderten- und Lehrerverbände daran, dass sie selbst erst viel zu spät in die Diskussion einbezogen wurden. Einer Umfrage der GEW zufolge befürworten 80 Prozent der Lehrer die Reform. Nur zehn Prozent fühlen sich jedoch umfassend darauf vorbereitet. „Wir hängen alle in der Luft“, sagt Lothar Semmel, stellvertretender Schulleiter an der Neuköllner Clay-Schule, die seit 20 Jahren Integration betreibt und das Hauruckverfahren skeptisch verfolgt. Obwohl die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) mittlerweile einen Beirat einberufen hat, der ein Konzept für die Inklusion an Berliner Schulen entwerfen soll, herrscht alles andere als Klarheit unter den Beteiligten.

Allgemeine Ideen für die Umsetzung der Inklusion in Deutschland lassen sich ohnehin nicht formulieren, weil die Ausgangssituation in jedem Bundesland und von Schule zu Schule verschieden ist. In Brandenburg sind zum Beispiel knapp 40 Prozent der behinderten Schüler inkludiert, in Berlin fast 50, wobei die Anteile in den einzelnen Bezirke stark schwanken. Das liegt unter anderem daran, dass Förderbedarf immer davon abhängt, welche Unterstützung sich das jeweilige Umfeld selbst zutraut. In Tempelhof-Schöneberg, wo bereits 70 Prozent der behinderten Schüler im gemeinsamen Unterricht gefördert werden, gelten weniger Kinder als förderbedürftig als in Lichtenberg. Das liegt wohl kaum daran, dass hier weniger Kinder mit Behinderung aufwachsen. „Aber Lernschwache werden in einer sozial starken Umgebung nicht so schnell stigmatisiert“, sagt Sigrid Baumgardt von der GEW Berlin. „Mit kompetenten Lehrern und Eltern kann man vieles ausgleichen.“

Kostenneutral wird Inklusion kaum gelingen

Was Eltern und Lehrer allein nicht ausgleichen können, sind die vielen neuen Aufgaben, die bei inklusivem Unterricht auf die Schulen zukommen. Das beginnt damit, dass Lernstoff für unterschiedliche Gruppen aufbereitet werden muss und noch viele barrierefreie Gebäude fehlen. Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten brauchen öfter Pausen, für Autisten ist eine Pause dagegen „Horror pur“, wie Bärbel Wohlleben vom Berliner Landesverband „Autismus Deutschland“ sagt. Außerdem hapert es bei den benötigten doppelten Lehrerbesetzungen in Klassen sowie an ausreichend Lehrern mit sonderpädagogischer Ausbildung. Grundschulen und Integrierte Sekundarschulen sind häufig schon gut aufgestellt. Gymnasien mit ihrem Fokus auf kognitive Leistungen sind laut Baumgardt schlechter für Inklusion ausgerüstet, obwohl Schüler mit körperlicher oder emotional-sozialer Behinderung hier durchaus hingehören.

Kostenneutral wird Inklusion kaum gelingen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung schätzt die Kosten bundesweit auf jährlich 660 Millionen Euro. Für Brandenburg gebe es einen zusätzlichen Bedarf von 626 Lehrern, in Berlin von 864 Lehrern bis 2020. Der Berliner Bildungssenat meint dagegen, man könne allein durch die Verschiebung von ehemaligen Sonderschullehrern an Regelschulen auf ein inklusives System umsteuern.

Ein anderes Problem sind die gedeckelten Fördermittel: Manchen Schülern stehen nur anderthalb Förderunterrichtsstunden in der Woche zu. „Irrwitzig“ nennt Demmer von der GEW diese Zahl. „Solche Stunden bringen leider oft mehr Unruhe als Unterstützung.“ Wenn lernschwache Schüler nicht zeitweise in Kleingruppen konzentriert würden, schade Inklusion ihnen am Ende sogar.

Den Weg zur Inklusion geht jedes Bundesland für sich. Dass Synergieeffekte geschaffen werden oder „man sich abgucken kann, wie man es nicht macht“, wie Demmer sagt, gelinge dem föderalen System nicht. So kommt es, dass, nachdem alle losgestürmt sind, nun das Nachbessern folgt. In Mecklenburg-Vorpommern ist Ruhe eingekehrt, seit der neue Bildungsminister Lehrern besser zuhört, heißt es. In Berlin hat man die Inklusion auf das nächste Schuljahr verschoben.

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