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© Mike Wolff

Interview: „Platzeck liegt falsch“

"Einen Wiederholungszwang gibt es nicht": Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler über Unterschiede zwischen NS-Staat und DDR

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck vergleicht die politische Integration früherer Funktionsträger des SED-Regimes mit der Rehabilitation von Angehörigen der Waffen-SS in der Nachkriegszeit – zu Recht?

Platzeck beruft sich auf Kurt Schumacher. Der damalige SPD-Vorsitzende, der in der NS-Zeit lange Jahre im KZ verbracht hatte, verwies auf die Tatsache, dass unter den jüngeren Angehörigen der Waffen-SS auch viele waren, die ihr gezwungenermaßen beitraten. Da plädierte er zu Recht für ein differenziertes Vorgehen. Eine direkte Parallele hierzu in der Zeit nach 1990 sehe ich nicht.

Platzeck beruft sich dabei auch auf ein Zitat von Ihnen: „Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten fragen.“ Fühlen Sie sich instrumentalisiert?

Platzeck zitiert mich korrekt. Wenn man aber NS-Staat und DDR konsequent vergleicht, fällt als ein wesentlicher Unterschied auf, dass Hitlers Herrschaft bis zum Ende des sogenannten „Dritten Reiches“ einen massenhaften Rückhalt hatte. Dagegen konnte sich die SED immer nur auf eine Minderheit stützen. Nach 1945 gab es folglich keine realistische Alternative dazu, den weniger belasteten ehemaligen Nationalsozialisten eine zweite Chance zu geben. Andernfalls wäre ein riesiges Reservoire an unzufriedenen, sich diskriminiert fühlenden Menschen entstanden, die Adressaten rechtsradikaler Parteien geworden wären. In der ehemaligen DDR gab es nach 1990 aber sehr wohl personelle Alternativen zur Weiterbeschäftigung belasteter Kräfte.

Ist denn ein Vergleich der Systeme in diesem Fall überhaupt gerechtfertigt?

Wenn man konsequent vergleicht, kann das sinnvoll sein. Aber Platzeck sagt nicht, was beide Regime tatsächlich gemeinsam hatten: den Anspruch auf den ganzen Menschen und Schaffung eines neuen Menschen – beide waren dem Anspruch nach totalitär. Zudem liegt Platzeck einfach falsch: Wir sollten aus dem nach 1945 weithin unvermeidlichen schonenden Umgang mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern keinesfalls folgern, dass die damals getroffenen hochproblematischen Entscheidungen heute wiederholt werden müssen. Die Quittung für das Beschweigen und Vertuschen politischer Belastungen hat mit zu der Studentenrebellion von 1968 geführt. Einen Wiederholungszwang gibt es nicht.

Seit 1990 wurden viele Leistungsträger aus der DDR-Zeit „abgewickelt“. Ist ihnen Unrecht geschehen?

Insbesondere in Brandenburg gab es eine hohe personelle Kontinuität in Verwaltung, Gerichten und Schulen. Auch daher rühren die heute viel beklagte fehlende Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR an den Schulen und eine vielfach apologetische Geschichtsinterpretation. An den Unis dagegen wurde auf ostdeutsche Alternativen, aber verstärkt auch auf westdeutsches Personal zurückgegriffen. Die Hochschulen wären ohne eine weitgehende personelle Erneuerung in ideologienahen Fächern auch nicht konkurrenzfähig geworden.

Müssen die etablierten bürgerlichen Parteien der enttäuschten Minderheit stärker entgegenkommen, um sie zu integrieren?

Nicht nachgeben dürfen Demokraten in der Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Ein Unrechtsstaat beginnt nicht mit Konzentrationslagern und Massenvernichtung, sondern mit der Vorenthaltung von Menschen- und Bürgerrechten, mit der Aufhebung der Gewaltenteilung, der Abschaffung einer unabhängigen Justiz und der Unmöglichkeit, Regierende in freien Wahlen abzulösen. All dies war in der DDR gegeben. Würde man dem Begriff Unrechtsstaat entgegenhalten, dass es Rechtsbereiche gab, in denen formal korrektes Recht gesprochen wurde, so gilt das mit Blick auf das bürgerliche Recht auch für NS-Deutschland.

Heinrich August Winkler (70) ist Historiker der Humboldt-Universität zu Berlin. Er wurde im Jahr 2007 emeritiert. Der erste Band seiner „Geschichte des Westens“ ist gerade erschienen.

Interview von Amory Burchard

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