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Interview: „Sozial unausgewogen“

Der Bildungsforscher Andreas Schleicher spricht im Interview über das deutsche Ergebnis in der OECD-Studie "Bildung auf einen Blick". Bei der OECD in Paris leitet er die Abteilung „Indikatoren und Analysen“ im Bildungsdirektorat – und bearbeitet auch die Pisa-Studie.

Herr Schleicher, erneut zeigt die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“, dass es Deutschland bald massiv an Fachkräften mangeln wird. Wer trägt für diese Entwicklung die Verantwortung?

Deutschland krankt an der Lebenslüge, dass das gute System der dualen Ausbildung, das wir ja tatsächlich haben, auch den zukünftigen Bedarf von Spitzenkräften befriedigen wird. Das ist aber nicht der Fall. Im internationalen Vergleich sind andere Länder erheblich erfolgreicher beim Aus- und Umbau ihrer Hochschulen als wir. In Deutschland ist der Zugang zum Studium sozial so unausgewogen wie in kaum einem anderen Land – und das, obwohl das Studium öffentlich finanziert ist. Das gilt nicht nur an den Universitäten, sondern für das Schulsystem, dem es nicht gelingt, die Potenziale vieler Kinder zu entwickeln.

Gerade hat der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin gesagt, der deutsche Arbeitsmarkt sei für Akademiker gesättigt. Das Lebenserwerbseinkommen von Akademikern sei inzwischen fast auf das von Facharbeitern zurückgegangen. Die zu vielen Besserqualifizierten verdrängten zunehmend Haupt- und Realschüler aus Ausbildungsberufen. Was halten Sie von diesen Argumenten?

Diese Argumente haben wir sämtlich widerlegt, nicht nur für Deutschland, sondern international. Der Einkommensvorteil von Akademikern gegenüber Personen mit Sekundarstufe-II-Abschluss liegt bei 64 Prozent und ist in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Das verweist auf eine Verknappung von Akademikern. Auch die Frage, ob Hochschulabsolventen Nichtakademiker auf dem Arbeitsmarkt verdrängen, haben wir genau untersucht. Das Gegenteil ist der Fall. In Staaten, in denen ausreichend Hochqualifizierte zu Verfügung stehen, wächst die Wirtschaft meist auch schneller und dann haben auch schlechter Qualifizierte bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Besteht der Absolventenmangel nicht nur in bestimmten Gebieten? An Ingenieuren scheint es mehr zu mangeln als an Germanisten und Architekten?

Das mag so sein. Aber im Schnitt haben alle Akademiker insgesamt bessere Gehaltsaussichten und ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden.

Gibt Deutschland generell zu wenig für sein Bildungssystem aus, oder ist das Geld oft einfach falsch verteilt?

Deutschland investiert unterdurchschnittlich in Bildung. Im Schnitt sind die Ausgaben der OECD-Staaten pro Schüler in den vergangenen zehn Jahren um 38 Prozent gestiegen, in Deutschland nur um fünf Prozent. Auch im Hochschulbereich strengen sich andere Länder deutlich mehr an. Aber auch die Frage der Verteilung ist von großer Bedeutung. Deutschland investiert in den ersten Schulklassen wenig, obwohl dort individuelle Förderung besonders wichtig ist, um Nachteile durch soziale Herkunft auszugleichen. Widersinnig ist auch, dass Deutschland Gebühren für die Kitas erhebt und nicht für die Hochschulen. Für die Hochschulen sind Studiengebühren aber nur ein Aspekt privater Finanzierung. Hier müsste Deutschland zu wirksamen Public-private-Partnerships kommen, wie es sie im dualen System bereits gibt.

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft – wie wird Deutschlands Bildungssystem wohl in zehn Jahren im internationalen Vergleich dastehen?

Wenn man die Trends hochrechnet, wird Deutschland weiter seine starke Basisqualifikation haben. Sorgen machen muss man sich aber bei den Spitzenqualifikationen, die der steigenden Nachfrage nicht gerecht werden. Selbst bei größter Anstrengung wird Deutschland es nicht schaffen, hier aufzuholen. Es wird wohl weiterhin im Schulsystem erhebliches Potenzial verloren gehen.

Die Fragen stellte Anja Kühne.

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