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Jahr der Geisteswissenschaften: Das Unbewusste der Wissenschaft

In der Forschung regiert das Gesetz der Zahl. Doch jenseits davon warten Geheimnisse auf Entschleierung.

Im Jahr der Geisteswissenschaften bittet der Tagesspiegel herausragende Vertreterinnen und Vertreter geistes- und kulturwissenschaftlicher Fachgebiete um kurze Aufsätze zu einem Forschungsthema, das sie gerade beschäftigt. Sie geben Einblicke in die Arbeitsweise von Geisteswissenschaftlern, in ihre Methoden und aktuellen Forschungsansätze. Diese Werkstattberichte sollen die Vielfalt geisteswissenschaftlicher Arbeit zeigen.

Die Wissenschaft scheut einerseits das Unbewusste wie der Teufel das Weihwasser: Bevor der Wissenschaftler das Labor betritt, muss er seine Befindlichkeiten, seinen Körper und seine Triebe an der Garderobe abgeben (eine Ausnahme bildet allenfalls die Neugier). Andererseits kommt sie ohne das Unbewusste aber auch nicht aus. Neue Fragen kommen oft zufällig und ungewollt daher – als hätten sie nur auf den Moment gewartet, wo der Wissenschaftler mal nicht aufpasst.

Deshalb hat Freud dem Unbewussten eine wichtige Funktion nicht nur für künstlerische Schöpfungen, sondern auch für "feine und schwierige intellektuelle Arbeit, die sonst angestrengtes Nachdenken erfordert" beigemessen. Und auch die modernen Kognitionswissenschaften (die heute einen Teil von Freuds Annahmen über das Unbewusste – etwa die Verdrängung – in der Hirntätigkeit bestätigt finden) konstatieren, dass wir (in informationstechnischen Einheiten gerechnet) pro Sekunde 10 bis 40 bits verarbeiten können, während die unbewusst arbeitenden Sinnesorgane 10 bis 100 Millionen bewältigen.

Unter den Wissenschaften tun sich die Geisteswissenschaften etwas weniger schwer mit dem Unbewussten. Da eines ihrer Anliegen die Entzifferung des Unbewussten einer Kultur ist, entwickelten sie ein Instrumentarium, mit dem sie dieser unberechenbaren Wirkungsmacht zu Leibe rücken können – und sie haben zunehmend nicht nur die Schöpfungen von Künstlern und Künstlerinnen, sondern auch die Paradigmen naturwissenschaftlicher Forschung im Auge. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Peter Strohschneider brachte es kürzlich auf den Punkt: "Anders als die Natur sind die Naturwissenschaften ein Produkt der Kultur." Sie gehören zu den Kulturmonumenten jedes Zeitalters – und werden damit auch zum Forschungsobjekt der Kulturwissenschaften.

Wenn aber die Wissenschaft dem Unbewussten so viel verdankt – warum schreckt sie dann davor zurück? Weil das Unbewusste dazu führt, dass man nicht mehr "Herr im eigenen Haus" ist, und weil das Unbewusste nicht den "logischen Denkgesetzen" folgt: Laut Freud stößt es sich weder am Widerspruch, noch nimmt es "Rücksicht auf die Realität", sondern ersetzt die "äußere Realität" durch die psychische. Nicht einmal für die Gesetze der Chronologie habe das Unbewusste ein Gespür: "Die Vorgänge des Systems Ubw sind zeitlos, das heißt, sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch die verlaufende Zeit nicht abgeändert, haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit." Genügend Gründe für die Wissenschaft, sich das Unbewusste vom Leib zu halten.

"Mathematisierbarkeit der Welt"

Nun kann man sich natürlich fragen, ob die Wissenschaft selbst so neutral und "objektiv" ist, wie sie sich selber sieht. Diese Frage hat sich der französische Soziologe und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis schon vor einigen Jahrzehnten in seinem Buch "Gesellschaft als imaginäre Institution" gestellt. Er konstatiert, dass sich zu Beginn der Neuzeit im europäischen Kulturraum eine Vorstellung entwickelte, die er mit dem Begriff der "Mathematisierbarkeit der Welt" umschreibt: Seither werde die sichtbare Welt in Zahlen erfasst, kartografiert und statistischen Berechnungen unterworfen – ein Weltbild, das unbestreitbar viele Neuerungen und Entdeckungen gezeitigt hat, aber eben auch ziemlich wenig "Rücksicht auf die Realität" nimmt. Diese "Mathematisierbarkeit der Welt“ ist jedoch bestimmend geworden für das westliche Konzept von Wissenschaft und geht zugleich mit unseren Vorstellungen von Bewusstsein konform. Mit der Folge, dass alles, was nicht dem Gesetz der Zahl unterliegt, dem Unbewussten zugeordnet wird und als "Geheimnis" auf seine "Ent-Schleierung" wartet.

Damit ist schon angedeutet, wie die Wissenschaft das Dilemma löst, dass sie einerseits vom Unbewussten Anregungen erwartet, andererseits aber davor zurückschreckt: Das Unbewusste wird einfach nur feminisiert. So wird einerseits all das abgespalten, was (noch) nicht kartografiert ist, andererseits geht der Wissenschaft aber auch der Stoff nicht aus. Diese geniale Idee hat schon einer der großen Neuerer unserer Wissenschaftslandschaft, Wilhelm von Humboldt, umgesetzt. Seine vor bald zweihundert Jahren gegründete Berliner Universität wurde zum Modell für viele universitäre Neugründungen in den Vereinigten Staaten und ist insofern prägend geworden für die moderne Wissenschaft.

Humboldt verfasste zwei Aufsätze, in denen von den Geschlechtern die Rede ist, doch eigentlich meinte er die Wissenschaft. Jede Zeugung, so schrieb er, ist "eine Verbindung zweier verschiedener ungleichartiger Principien, die man, da die einen mehr thätig, die anderen mehr leidend sind, die zeugenden und die empfangenden nennt". Diesem Prinzip sei nicht nur die "Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut" worden, es gelte auch für alle kulturellen Schöpfungen. "Auch die reinste und geistigste Empfindung geht auf demselben Wege hervor, und selbst der Gedanke, dieser feinste und letzte Sprössling der Sinnlichkeit, verläugnet diesen Ursprung nicht." Unter dem zeugenden Element verstand Humboldt das männliche, unter dem empfangenden Element das weibliche Prinzip. So kam er zu einer neuen Definition von "Männlichkeit", die mit der modernen Definition des Wissenschaftlers, der Körper und Sinnlichkeit vor der Tür des Labors abzulegen hat, fast identisch ist: "Wo die Männlichkeit herrscht, ist das Vermögen: Kraft des Lebens, bis zur Dürftigkeit von Stoff entblößt." Während das männliche Prinzip "mehr aufklärend" sei, sei das weibliche "mehr rührend. Das eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme".

"Männlicher" und "Weiblicher" Geist der Wissenschaft

Lumière – oder Bewusstsein – auf der einen Seite also, das Unbewusste, das noch auf die Erhellung wartet, auf der anderen. Er nahm also eine Aufspaltung der Wissenschaftslandschaft in einen "männlichen" und "weiblichen" Geist vor; und weil Humboldt daran gelegen war, dieses Paradigma auch in der Natur selbst verankert zu sehen, meinte er es auch im "Geschlechtsbau" wiederzuerkennen: Beim weiblichen Körper habe sich die Natur "mit unverkennbarer Sorgfalt alle Theile, die das Geschlecht bezeichnen, oder nicht bezeichnen, in Eine Form gegossen, und die Schönheit sogar davon abhängig gemacht". Beim männlichen Körper hingegen habe sie sich "eine größere Sorglosigkeit erlaubt; sie verstattet ihr mehr Unabhängigkeit von dem, was nur dem Geschlecht angehört" und sei zufrieden, diese "nur angedeutet zu haben". Humboldt lieferte also schon vor zweihundert Jahren eine präzise Beschreibung des idealen wissenschaftlichen Körpers, der das Geschlecht "fast überall der Menschheit zum Opfer bringen muss".

Gewiss, rund hundert Jahre nach Humboldt öffneten sich die Tore der Alma Mater auch für Frauen. In Wien schrieb Freud zwar die Feminisierung des Unbewussten fort: Die Menschheit habe über "das Rätsel der Weiblichkeit zu allen Zeiten gegrübelt" – und das gelte auch für die Zuhörer in seiner Vorlesung, "insoferne Sie Männer sind; von den Frauen unter Ihnen erwartet man es nicht, sie (sic) sind selbst das Rätsel". Doch diesem Versuch, symbolische Weiblichkeit im biologischen Frauenkörper zu verorten, widersetzten sich Frauen – ob als Wissenschaftlerinnen oder Psychoanalytikerinnen – immer deutlicher; wie auch männliche Wissenschaftler heute immer weniger bereit sind, ihr Geschlecht der Wissenschaft "zum Opfer zu bringen".

Dennoch wirkt das Paradigma eines feminisierten Unbewussten fort – in der Wissenschaft wie in der Politik. Besonders deutlich zeigt sich das an den aktuellen Erregungen über das Kopftuch. Einerseits werden verschleierte Frauen als Symbol für "Rückständigkeit" und "Unaufgeklärtheit" verstanden. Andererseits birgt ihr Anblick aber auch das Versprechen, dass es noch immer "dunkle Kontinente" gibt, die ent-deckt und Geheimnisse, die ent-schleiert werden können. Wir können getrost in die Zukunft schauen: Unserer Wissenschaft geht der Stoff nicht aus.

Zur Person:

Christina von Braun gehört zu den wichtigsten Kulturwissenschaftlern in Deutschland. Seit 1994 lehrt und forscht sie als Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist das Wechselverhältnis von Geistesgeschichte und Geschlechterrollen. Von Braun hat an der HU das Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien aufgebaut, ist Sprecherin des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ und Gründerin des Studiengangs „Gender Studies“. Sie sitzt in den Präsidien des Goethe-Instituts und des Evangelischen Kirchentages. Von Braun, geboren 1944 in Rom, studierte in den USA und in Deutschland und arbeitete lange als Autorin und Filmemacherin in Paris. Sie hat über 50 Filmdokumentationen und Fernsehspiele gedreht und zahlreiche Bücher publiziert. Die jüngsten Bände sind „Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen“ und „Stille Post“, ein Buch über die Frauen in ihrer Familie (beide 2007 erschienen). tiw

Die Serie erscheint monatlich. Zuletzt schrieben Gudrun Krämer über einen islamischen Feminismus (2. Juli), Wolfgang Kubin über die Wurzeln des chinesischen Theaters (1. Juni) und Sigrid Weigel über Lessings "Emilia Galotti" (2. Mai).

Christina von Braun

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