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Wissen: „Jede Grippe breitet sich anders aus“

Wie die Geografie den Medizinern helfen kann

Herr Kistemann, morgen beginnt in der Staatsbibliothek Berlin eine Fachtagung für Medizinische Geografie. Was ist das eigentlich?

Das ist die Anwendung von geografischen Methoden für gesundheitsrelevante Fragestellungen. Das einfachste und klassische Werkzeug ist die Darstellung in einer Karte. Damit kann man zeigen, wie eine bestimmte Krankheit räumlich verbreitet ist – aber auch wie bestimmte Fachärzte übers Land verteilt sind und wo es Lücken in der Versorgung gibt.

Woher kommen Daten?

Teilweise erheben wir die Daten selbst, das bietet sich vor allem bei kleinräumigen Untersuchungen an. Etwa wenn es um die Verteilung von offenen und stehenden Gewässern geht, die als Brutplätze für bestimmte Insekten infrage kommen, die ihrerseits Krankheitserreger übertragen können. Wenn größere Gebiete untersucht werden, greift man oft auf amtliche Statistiken oder Daten aus der Fernerkundung zurück. Trägt man die Daten in eine Karte ein, lässt sich erkennen, ob das Auftreten einer Krankheit wie etwa Tuberkulose mit bestimmten sozialen oder soziodemografischen Faktoren zusammenhängt.

Ist das bei der Tuberkulose der Fall?

Ja, wir haben dazu vor einigen Jahren eine Studie in Köln gemacht mit Daten von rund 80 Stadtteilen. Dabei zeigte sich, dass bestimmte Faktoren ein erhöhtes Ansteckungsrisiko bedeuten: Wohndichte, Arbeitslosigkeit, Empfänger von Sozialhilfeleistungen – so hieß das damals noch – und der Anteil von Migranten.

Wie ist der Zusammenhang zu erklären?

Hier gab es vor allem eine starke Verbindung zu Bevölkerungsgruppen, die aus Hochrisikogebieten eingewandert sind. Besonders dann, wenn sie weiter eine regelmäßige Verbindung zu ihrem Herkunftsgebiet haben.

Also je häufiger sie dorthin reisen, desto größer das Risiko für Infektionen?

Genau. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand aus der Türkei eingewandert ist und immer wieder dorthin reist. Oder ob jemand aus Kasachstan kommt, dorthin fährt in der Regel niemand mehr zurück. Wir haben zeigen können, dass für Migranten, die ihre Verbindungen ins Herkunftsland erhalten, das Risiko größer ist.

Was geschieht, wenn Sie in einem Viertel einen Brennpunkt identifiziert haben?

Die Tuberkulosestudie haben wir intensiv mit den Gesundheitsbehörden in Köln diskutiert. Es liegt dann an ihnen, auf bestimmte Punkte einzugehen. Zum Beispiel indem man in Risikogebieten mehr Präventionsangebote startet. Dazu gehört, Hemmschwellen abzubauen, den Menschen den Weg zu Screeninguntersuchungen zu erleichtern und natürlich den Bewohnern klar zu machen, dass es diese Krankheit überhaupt gibt – und dass sie behandelt werden kann.

Im Gegensatz zu wenigen Tuberkulosefällen verläuft eine Grippewelle viel dynamischer. Was bringt es, dafür Karten zu erstellen? Bis die Daten vorliegen, sind die Leute doch meist wieder gesund.

Das stimmt, die Welle ist zu schnell für die klassischen Meldewege: Patient geht zum Arzt, der erkennt Grippe, meldet das ans Gesundheitsamt, das ans Statistische Landesamt, von dort geht die Information ans Robert-Koch-Institut (RKI). Das dauert in der Regel zwei Wochen, das ist zu viel. Für die Grippe haben wir ein anderes System, die sogenannten Sentinel-Praxen. Das sind etwa 800 Beobachtungspraxen in ganz Deutschland, die direkt mit dem RKI verbunden sind und einmal pro Woche ihre Daten zu aktuellen Erkrankungen weitergeben. Daraus werden Animationen erstellt, aus denen sich der weitere Verlauf gut abschätzen lässt. Diese Informationen nutzt man dann, um gezielt Impfstoffe in die Regionen zu bringen oder die Bevölkerung zu warnen.

Zeigt die Grippe jedes Jahr die gleichen räumlichen Muster?

Nein. Die Schwerpunkte sind andere, die Verbreitungsgeschwindigkeit ist anders, die Höhe der Peaks, der zeitliche Verlauf. Jedes Jahr hat eine andere Charakteristik.

Warum?

Das ist bisher nur wenig verstanden. Es gab verschiedene Ansätze: Klimatische Faktoren wurden betrachtet oder ob sich Zusammenhänge über Pendlerströme herleiten lassen. Denkbar wäre, dass sich die Krankheit von urbanen Gebieten in die Fläche ausbreitet. Eine „absteigend hierarchische Verbreitung“, nennen wir das. Bei HIV zum Beispiel ist dieser Mechanismus klar nachgewiesen, in den 80er-Jahren gelangte das Virus so von den Zentren aufs Land. Bei der Grippe jedoch funktioniert das Modell nicht. Warum das so ist, können wir nicht sagen, da gibt es noch Forschungsbedarf.

Die Fragen stellte Ralf Nestler.

THOMAS

KISTEMANN
(49),

Diplom-Geograf und Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin, ist Professor für Medizinische Geografie an der Universität Bonn.

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