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Käsestrategie statt Salamitaktik: Wie man auch mit löchrigen Maßnahmen Corona bekämpfen kann

Anfang der 90er Jahre wurde das sogenannte „Swiss Cheese Model“ entwickelt. Was es damit auf sich hat und warum die Strategie dahinter jetzt helfen könnte.

Kann man durch Emmentaler-Scheiben hindurchgucken oder nicht? Die Antwort ist, wenn man ein bisschen überlegt, gar nicht so klar, wie man im ersten Moment denkt. Eine einzelne Scheibe ist sehr löchrig. Auch wenn man drei oder vier übereinander legt, funktioniert das mit dem Hindurchgucken noch. Aber der effektive lichtdurchlässige Lochdurchmesser schrumpft mit jeder weiteren.

In dieser Pandemie überfordern uns sowohl die Statistiken als auch die Modellrechnungen immer wieder – zusammen mit den aus ihnen abgeleiteten grafischen Darstellungen. Da freut man sich über jede etwas einfacher zu begreifende Abwechslung. Diese hier zum Beispiel. Man könnte sie die „Emmentaler-Strategie“ nennen.

Wen das zu sehr an ein Land erinnert, in dem der Käse zwar gut, die Pandemiebekämpfung aber bislang eher löchrig ist, kann auch Bezeichnungen für andere Sorten mit Hohlraum wie manche Gouda-Varianten, Maßdamer oder Tilsiter benutzen.

Dabei ist das, was diese Grafik verdeutlicht, nicht neu: dass alle möglichen jeweils für sich ziemlich unvollkommenen Maßnahmen und Änderungen des persönlichen Verhaltens im Konzert letztlich effektiv ein hochinfektiöses Virus in seiner Verbreitung eindämmen können. Doch an dem Modell wird noch mehr klar.

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Das Volumen der Höhlungen, oder auch der Durchmesser der Löcher selbst, steht für die einzelnen übertragungsrelevanten Aspekte. Ihre jeweilige Größe repräsentiert deren Wichtigkeit. Wäre etwa der Schulbesuch und das Einschleppen der Viren aus der Schule nach Hause und dann weiter in die Gesellschaft der wichtigste Faktor, würde man diesem Aspekt ein großes, das Ausmaß dieses Einflusses repräsentierendes Loch zuordnen.

Wären Schmierinfektionen von den Händen ebenfalls ein Problem, aber vergleichsweise weniger wichtig, bekämen sie ein eher kleines Loch in der Hygienescheibe. Zwar fehlen – ähnlich wie beim Blick von außen auf ein Stück Käse – die wissenschaftlichen Grundlagen nach wie vor weitgehend, um die Lochgrößen für Schulbesuch, U-Bahnfahrt, Essen mit Freunden, Supermarkteinkauf und vieles mehr genau festzulegen.

Dass, wenn man genügend Scheiben übereinander legt, der Durchguck immer kleiner wird, stimmt deswegen aber trotzdem.

Löcher stopfen im Käse

Man kann hier noch weiter denken: Anders als in der Darstellung könnte man, je nachdem, wie gut und effektiv eine Maßnahme oder ein Verhaltensappell an die Bevölkerung funktioniert, die Käsescheiben unterschiedlich dick darstellen. Die Scheibe für das sachgerechte Maskentragen etwa wäre also doppelt so dick, wenn nicht nur die Hälfte der Leute mitmachen würde, sondern alle.

Und die Löcher würden schon innerhalb der Scheibe ihren Durchmesser deutlicher verkleinern. Infektiösere Mutanten wiederum machen die Löcher größer. Man braucht dann also dickere oder mehr Scheiben.

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Tatsächlich zeigen Beispiele aus Ländern wie Taiwan, dass man den Emmentaler scheibenweise komplett dicht bekommen kann. Aber auch ein Scheibenstapel, in dem doch noch ein paar kleine Durchgucke verbleiben, schränkt den Blick – beziehungsweise das Durchkommen des Virus – deutlich ein. Sind die einzelnen Scheiben aber zum Teil eher dünn, und verzichtet man zudem auf manche ganz, dann kommt deutlich mehr hindurch.

Ein Modell mit Tradition

Das „Swiss Cheese Model“ stammt eigentlich von den Psychologen James Reason und Dante Orlandella. Entwickelt haben sie es Anfang der 90er Jahre auch nicht zur Illustration einer Pandemiebekämpfung. Ursprünglich stehen die Scheiben vielmehr für Organisationsebenen, die Unfällen vorbeugen sollen, etwa in der Luftfahrt.

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Die Löcher stellten die Fehleranfälligkeiten der einzelnen Ebenen dar. Ziel muss es also sein, diese einzelnen Löcher klein zu halten und durch möglichst viele Ebenen letztlich alles abzudichten. Das entspräche dann statt komplettem Infektionsschutz kompletter Unfallsicherheit. Im ursprünglichen Modell sind Scheiben willkürlich und nicht kontinuierlich abgeschnitten und gestapelt. Das ändert aber nichts am Prinzip.

Für die Coronabekämpfung hat der australische Virologe Ian Mackay das Modell adaptiert. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn das Modell ist zwar nicht perfekt, lässt sich jedoch universell auf komplexe Herausforderungen übertragen. Varianten können etwa zeigen, wie man am besten den Klimawandel angeht, einer Krankheit vorbeugt oder ein Team organisiert.

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