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Überflutet. Der Wirbelsturm "Phailin" hat heftigen Regen gebracht, der die Flüsse anschwellen lässt.

© Reuters

Katastrophenhilfe mit Satelliten: Hilfe aus dem Himmel

Während in Indien ein Sturm wütet und ganze Landstriche verwüstet, behalten Satelliten im All den Überblick. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Experten, aus den Daten eine aktuelle Karte des Gebiets zu erstellen, um Rettungskräfte zu unterstützen.

Am Samstag ist das Monster da. Auf 500 Kilometer Durchmesser ist der tropische Wirbelsturm „Phailin“ angewachsen, als er vergangene Woche die indische Küste erreicht. Mit bis zu 200 Kilometern pro Stunde peitscht der Wind übers Land, begleitet von heftigen Regenfällen. Tausende sind auf der Flucht, Häuser überschwemmt, Stromleitungen zerstört – und in der Nacht wird der Sturm weiter wüten.

Die Experten der indischen Raumfahrtagentur wissen, dass am nächsten Morgen für Katastrophenschützer und Hilfsorganisationen simple Fragen entscheidend sind: Welche Dörfer sind überflutet? Wo ist der Strom ausgefallen? Wo drohen weitere Überschwemmungen? Unten, im Chaos, ist eine Antwort kaum zu bekommen, von oben aber schon. Satelliten behalten auch in Krisensituationen den Überblick, ungerührt von dem, was auf der Erde gerade passiert. Aus ihren Daten lassen sich Karten anfertigen, die etwa zeigen, welche Zufahrtsstraßen passierbar sind oder welche Gebäude nach einem Erdbeben stehen geblieben sind.

Darum verschicken die indischen Experten noch am Samstagabend einen Notruf per E-Mail an Raumfahrtagenturen in aller Welt. Der standardisierte Hilferuf ist kurz, er benennt den Katastrophentyp: „Sturm“ sowie das betroffene Gebiet: 21° 45’ N / 81°20’ E sowie 16°10’ N / 87°40’ E. Das sind die Koordinaten der Region, der Einfachheit halber werden nur die „obere linke“ und die „untere rechte“ Ecke angegeben.

Um 19.18 Uhr trifft die E-Mail im Fernerkundungszentrum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen ein. Die Männer und Frauen, die gerade Bereitschaftsdienst haben, legen los, um so schnell wie möglich Aufnahmen des Gebietes zu liefern. Ebenso wie Fachleute der Raumfahrtagenturen in Frankreich, Großbritannien, Kanada, Indien sowie des Geologischen Dienstes der USA.

Am nächsten Tag saust der Satellit planmäßig über das Krisengebiet hinweg und sammelt Daten

Es gibt keine reinen „Katastrophensatelliten“, auf die sie zugreifen könnten. Je nach Art der Krise werden unterschiedliche Daten von unterschiedlichen Spähern benötigt, und zwar von Satelliten, die eigentlich für einen anderen Zweck ins All geschossen wurden, etwa für Kartierungen. Die Hightech-Beobachter lassen sich auch nicht einfach über das Katastrophengebiet lenken, sie kreisen auf starren Umlaufbahnen. Es ist also auch etwas Glück vonnöten, dass die begehrten Flieger möglichst bald die betroffene Region überqueren und rasch Kontakt zu einer Bodenstation finden, um die Daten zur Erde zu schicken.

Terrasar-X. Der deutsche Radarsatellit kreist seit 2007 in gut 500 Kilometern Höhe um die Erde. Er kann auch durch Wolken hindurch Aufnahmen von der Oberfläche machen.
Terrasar-X. Der deutsche Radarsatellit kreist seit 2007 in gut 500 Kilometern Höhe um die Erde. Er kann auch durch Wolken hindurch Aufnahmen von der Oberfläche machen.

© EADS Astrium

Die DLR-Forscher entscheiden sich für den Späher „Terrasar-X“, funken ihn an und sagen ihm, wann und wo er messen soll. Am nächsten Tag um 14.15 Uhr saust er wie geplant in 514 Kilometern Höhe über Ostindien hinweg, strahlt Radarwellen nach unten und zeichnet kurz darauf die reflektierten Signale auf.

Radarsatelliten wie Terrasar-X sind bei Überflutungen besonders gefragt, denn sie können gut zwischen Wasserflächen und Land unterscheiden. „Die Radarwellen werden von Wasserflächen stärker zur Seite weggestreut und diese Flächen erscheinen dann in den Radarbildern dunkler als nicht überschwemmte Bereiche“, erläutert der DLR-Forscher Günter Strunz. Die zum Satelliten zurückgeworfenen Signale werden mit Computerprogrammen, die er und sein Team entwickelt haben, automatisch ausgewertet, um zügig überflutete Gebiete auszuweisen. „Vor allem aber ermöglicht es die Radartechnik, die Erde auch nachts und durch Wolken hindurch zu beobachten“, sagt der Fernerkundungsspezialist. Satelliten, die sichtbares Licht nutzen, sind trotzdem hilfreich, denn sie liefern zusätzliche Informationen. So sind Aufnahmen mit einer Detailgenauigkeit von nur einem halben Meter möglich. „Das nutzen wir vor allem nach Erdbeben, wenn es darum geht, Schäden an Gebäuden zu erkennen“, sagt Strunz.

Der Hilferuf aus Indien ist nur eine von vielen Anfragen, die beim DLR eintreffen. Um bei Fluten, Stürmen, Vulkanausbrüchen, Flächenbränden oder Erdbeben schnell zu helfen, haben sich Raumfahrtagenturen und Satellitenbetreiber zum „International Charter Space and Major Disasters“ zusammengeschlossen. Dieses Konsortium nimmt jeden Notruf entgegen und kümmert sich darum, die passenden Bilder bereitzustellen. Die Leitung des Charter wechselt alle sechs Monate, derzeit ist Deutschland an der Reihe.

Überblicksaufnahmen sind oft wichtiger als hoch aufgelöste Bilder

Häufig ist der Überblick über ein großes Areal wichtiger als feine Details. So auch in Indien. Zwar könnte Terrasar-X Bilder mit einer Auflösung von einem Meter liefern, doch der Bildausschnitt wäre nur 5 mal 10 Kilometer klein. Wechselt man von diesem „Teleobjektivmodus“ zu einer Auflösung von drei Metern, ist das erfasste Areal bereits 30 mal 50 Kilometer groß. Im „Weitwinkelmodus“ mit immerhin noch 18 Metern Auflösung wird schließlich eine Fläche von 100 mal 150 Kilometern aufgenommen.

Mit den reinen Messdaten eines Satelliten können die Helfer im Krisengebiet wenig anfangen. Es sind lediglich Zahlenkolonnen, die die Signalstärke in den verschiedenen Detektoren wiedergeben. Auf der Erde werden diese weiterverarbeitet und unter anderem geometrisch entzerrt: Da sich die Erde unter den Satelliten hinwegdreht, sind deren Aufnahmen stets nach Westen oder Osten verschoben – je nachdem, ob sie im Uhrzeigersinn oder dagegen über die beiden Pole kreisen. Zudem wird eine Geocodierung vorgenommen, das heißt das Bild mit exakten Koordinaten versehen. „Erst dann wird es möglich, das aktuelle Bild aus dem Weltraum mit vorhandenen digitalen Karten zu kombinieren“, sagt Strunz. Das können Straßenkarten sein, Karten mit Strom- und Gasleitungen oder eine Ortsdatenbank, um den Pixelhaufen vertraute Namen zu geben.

Das Erstellen der Themenkarten übernehmen meist die Katastrophenschützer im betroffenen Land, wie im aktuellen Fall in Indien. Als im Juni weite Teile Deutschlands überflutet waren, haben die Oberpfaffenhofener auch selbst solche Karten angefertigt. Die zeigten beispielsweise, welche Verkehrswege passierbar sind, welche Krankenhäuser, Schulen und Turnhallen erreichbar sind, was für Evakuierungen wichtig ist. Mehr als 30 Spezialisten waren damals rund um die Uhr im Einsatz. Normalerweise sind es vier bis sechs Mitarbeiter, die hinter zahlreichen Monitoren in konzentrierter Ruhe arbeiten.

Berührt die Fachleute das tausendfache Leid in den Katastrophengebieten, um die sie sich gerade kümmern? „Als ich hier begonnen habe zu arbeiten, habe ich mir häufiger vorgestellt, wie das wohl vor Ort aussieht, habe Medienberichte intensiv verfolgt“, erzählt Thomas Gosdschan, der seit zweieinhalb Jahren dabei ist. „Bei 40 Aktivierungen im Jahr bekommt man mit der Zeit Routine.“ Viel Zeit zum Nachdenken habe er ohnehin nicht, denn es herrscht Zeitdruck: Die Daten sollen möglichst schnell an die Nutzer übergeben werden. „Wenn ich mich darauf konzentriere, dann helfe ich den Menschen mehr, als wenn ich mir zu viele Sorgen mache“, sagt er.

Die Zahl der Späher ist begrenzt - damit steigt die Wartezeit

Der Vorteil des Charter ist, dass neben den Forschungssatelliten auch kommerzielle Beobachter angefragt werden können. „Wir unterstützen das Charter seit zwei Jahren und haben mehrfach in Krisensituationen Bilder gemacht“, sagt etwa Marcus Apel von der Firma „Rapideye“, die fünf Satelliten für Kartierungen der Erdoberfläche betreibt. Den Mehraufwand nehme man in Kauf: „Meistens finden wir im Nachhinein doch noch einen Kunden, der ein präzises Satellitenbild von diesem Gebiet kaufen möchte.“ Darüber hinaus wird die Firma vom DLR entschädigt, das wiederum vom Bundeswirtschaftsministerium finanziert wird.

Dennoch könne die Arbeit noch besser werden, sagt Jens Danzeglocke vom DLR Raumfahrtmanagement in Bonn, der die Arbeit des Charter mit koordiniert. „Viele Länder, vor allem in Afrika, sind noch nicht als Nutzer registriert.“ In Krisenfällen müssten dann stellvertretend andere Nationen oder die Uno das Charter aktivieren, was wertvolle Zeit koste. Zudem sei die Anzahl geeigneter Erdbeobachter begrenzt. Es fehle vor allem an Radarsatelliten.

Auch bei der Erkennung von Bränden müssen die Forscher mit einer limitierten Flotte zurechtkommen. Täglich lodern weltweit tausende Feuer auf. In Mitteleuropa ist die Früherkennung sehr gut. Waldbrände werden meist binnen weniger Minuten registriert, durch optische Sensoren auf hohen Masten oder durch Menschen, die per Mobiltelefon rasch Alarm geben. „Hier spielen Satelliten keine Rolle, im Gegensatz zu abgeschiedenen Gegenden wie Sibirien oder Australien“, sagt Johann Goldammer vom Global Fire Monitoring Center in Freiburg. Die Wissenschaftler dort verstehen sich als Schnittstelle zwischen Forschung rund um Feuer und zuständigen Behörden weltweit. „Die Forderung, die wir immer wieder hören, ist deutlich: Wir brauchen mehr Satelliten, um Brände früher zu erkennen“, berichtet er. Bisher wird ein System genutzt, das im Schnitt zweimal täglich jeden Ort der Erde überfliegt. „Wirklich sinnvoll wäre aber ein Überflug alle zwei bis drei Stunden.“ Auch die Präzision könnte besser sein.

Der Feuersatellit "Biros" ist immer noch am Boden

Die Technik ist vorhanden. Vor zwölf Jahren begann der deutsche „Bird“-Satellit seinen Testflug: Er konnte bereits vier Quadratmeter große Feuer aufspüren und zudem ihre abgestrahlte Energie ermitteln. Daraus lässt sich die Art des verbrannten Materials rekonstruieren sowie die Menge an freigesetzten Treibhausgasen. Mittlerweile wurde die Bird-Technik verbessert und fliegt derzeit auf dem neuen Satelliten „Tet-1“. Ein zweiter, genannt „Biros“ sollte eigentlich längst im Orbit sein, doch der Start verzögert sich immer wieder. „Ende 2014“ hat das DLR jetzt anvisiert. Einen weiteren Feuersatelliten könne vielleicht Mexiko beisteuern, heißt es weiter. Derzeit gebe es Verhandlungen dazu. Für die gewünschten Überflüge alle drei Stunden sind aber fünf solcher Späher nötig, die im Verbund die Erde umkreisen.

Unabhängig davon, wann die Flotte tatsächlich zum Fliegen kommt, markieren Tet-1, Biros und Co. eine neue Generation kleinerer, spezialisierter Erdbeobachter. Sowohl Entwicklungszeit als auch -kosten liegen dabei deutlich unter dem, was massive Späher wie der busgroße „Envisat“ erfordern. Auch der Weg in den Orbit ist billiger, denn diese Kleinsatelliten brauchen keine großen Raketen für den Start beziehungsweise reisen sie als Zusatzfracht relativ preiswert bei großen Missionen in der Raketenspitze mit.

So könnte eine Flotte von Satelliten entstehen, die noch schneller präzise Aufnahmen von Krisengebieten liefert. Das kann derzeit schon mal zwei bis drei Tage dauern. Etwa dann, wenn kein geeigneter Späher in der Nähe ist oder zu wenig Bodenstationen für die Datenübertragung vorhanden sind. Bei den Fluten von Indien lief es besser. Am Sonntagabend um 19.20 Uhr geben die DLR-Forscher das aktuelle Radarbild von Ostindien auf ihrem Server frei. 24 Stunden und zwei Minuten sind vergangen, seit der Notruf eingetroffen ist. Inzwischen haben die indischen Fachleute daraus Karten erstellt, die die Helfer vor Ort nun nutzen.

Die Experten in Oberpfaffenhofen haben sich wieder ihrer Routinearbeit zugewandt. Sie entwickeln neue Programme für die automatische Auswertung von Satellitenbildern oder tüfteln an Verfahren, um Katastrophenbilder aus dem Himmel mit Aufnahmen aus Flugzeugen und Drohnen zu kombinieren, womöglich erweitert um Beobachtungen von Helfern vor Ort, die Informationen per App ins Lagezentrum schicken... Bis die nächste E-Mail mit einem Notruf eintrifft.

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