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Alptraumoment Krebsdiagnose. Wen es treffen kann, ist nach einer neuen Studie so unklar wie nie. Sie ergab, dass vor allem der Zufall im Spiel ist.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Krebs als Zufall: Gott würfelt eben doch

Krebs oder nicht? Das ist einer neuen Studie zufolge vor allem eine Lotteriefrage. Jetzt sich seinen gesunden Lebensstil sparen sollte man trotzdem nicht. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Bert Vogelstein ist ein Titan der Krebsforschung. Und im Nebenberuf Provokateur. Vogelstein erschreckt gern Gesundheitswissenschaftler. Das sind jene Menschen, die uns weismachen wollen, dass wir uns nur gesund ernähren, aufs Rauchen verzichten, uns viel bewegen und unser Idealgewicht halten müssen, und alles wird gut, gesundheitlich gesehen.

Nicht ganz, sagen der Genetiker Vogelstein und sein Kollege, der Statistiker Cristian Tomasetti von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Wenn es um Krebs geht, dann ist vor allem der Zufall im Spiel, lautet die Essenz der Studie, die sie diese Woche im Fachblatt „Science“ veröffentlicht haben (der Tagesspiegel berichtete). Annähernd zwei Drittel aller krebsverursachenden genetischen Veränderungen des Erbguts beruhen auf zufälligen „Tippfehlern“ beim Kopieren der DNS. Krebs, dieser Schluss liegt nahe, ist in den meisten Fällen Pechsache.

Fürwahr, eine Provokation. Heißt das nun, dass alles erlaubt ist und alle Vorsorge für die Katz? Natürlich nicht. Tomasetti und Vogelstein betonen, dass Vorbeugung so wichtig wie eh und je bleibt. Sie bezweifeln nicht, dass der Hauptrisikofaktor von Lungenkrebs Rauchen ist oder dass ein ungesunder Lebensstil und Umweltschadstoffe die Tumorgefahr erhöhen. Wer raucht, lenkt die Pfeile des Zufalls in seine Richtung.

Man kann Risiken provozieren - oder eben nicht

Annähernd 40 Prozent aller Krebsfälle sind vermeidbar, wenn man den Risiken aus dem Weg geht, zitieren die Forscher zustimmend gängige Berechnungen. Sie sehen ihre Ergebnisse in völligem Einklang mit diesen Abschätzungen der Gesundheitswissenschaftler. Ob sie sie wirklich glauben oder ob sie stimmen, ist eine ganz andere Frage. 40 Prozent Verhütungsquote durch Vorbeugung erscheinen bei kritischer Betrachtung als eher optimistische Annahme, zumal der wichtigste Risikofaktor, nämlich das Altern, nicht zu ändern ist. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose liegt bei knapp 70 Jahren.

Und dann sind da jene Menschen, die immer alles richtig gemacht haben – viel Obst und Gemüse gegessen, Sport getrieben, die nie geraucht und nur selten Alkohol getrunken haben – und trotzdem: Krebs. Wie kann das sein? Für sie, wie für viele andere, die es erwischt hat, gilt, dass sie sich nicht schuldig fühlen müssen. Die meisten Tumorpatienten konnten nichts tun, um ihre Krankheit zu verhindern. Oder die von ihrem Nachwuchs. Denn viele Eltern von krebskranken Kindern fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Gar nichts, sagen Vogelstein und Tomasetti. Praktisch alle Mutationen, die zu Krebs in der Kindheit führen, beruhen auf zufälligen Kopierfehlern. Die Eltern sind so unschuldig wie die Kinder.

Wenn bisher über die Ursachen von Krebs diskutiert wird, dann geht es meist um zwei Faktoren, nämlich die Umwelt und die Gene, also das vererbte Risiko. Es ist das Verdienst der beiden Forscher aus Baltimore, dass sie auf den Elefanten im Raum hingewiesen haben, den die Fachwelt bis dahin bestrebt war, geflissentlich zu übersehen: den Zufall. Selbst wenn es gelänge, alle riskanten „Familiengene“ zu korrigieren und man dazu in einer perfekten Welt ohne Schadstoffe und mit überaus gesunder Kost leben würde – der Krebs wäre immer noch da. Er ist so etwas wie eine Naturkonstante. Unvermeidlich, solange sich Zellen in unserem Körper teilen, der Fluch der Mehrzelligkeit.

Krebs ist das Ergebnis von Zellteilung

Bereits 2015 haben die Forscher mit einer ersten Studie für Aufsehen gesorgt, viel Kritik auf sich gezogen und Gegenstudien provoziert. Auch jetzt wird es wieder Streit geben, obwohl die Argumentation nun durch neue Daten und Berechnungen geradezu unerschütterlich scheint.

So bemängeln Wissenschaftler bereits, dass Vogelstein und Tomasetti es sich zu einfach machen. Die Wirklichkeit der Krebsentstehung sei komplizierter, vieles nicht verstanden, der Einfluss der Umwelt womöglich größer, und es gebe höchstwahrscheinlich Wechselwirkungen zwischen den drei Sektoren Erbe, Umwelt und Zufall.

Alles wahr, doch spricht das nicht gegen das kühne Vorhaben, die Ursachen von Krebs zu gewichten. Das ist ein wenig wie bei Columbus. Zwar hat er Amerika entdeckt, doch blieb es späteren Generationen vorbehalten, den Kontinent zu erobern und im Detail zu vermessen. Vogelstein und Tomasetti sind nur die Ersten. Jetzt muss die Expedition zu den Quellen der Krebsentstehung beginnen.

Es geht manchen Kritikern nicht nur um medizinische Details. Es ist auch der Begriff „Zufall“, der ihnen ein Dorn im Auge ist. Soll die Wissenschaft nicht eigentlich dieses verhasste Element aus unserer Welt vertreiben? Am Ende der Forschung sollen Gewissheit und Kontrolle stehen, nicht das große unbekannte X. Niemand will, dass pure Willkür über unser Schicksal entscheidet, schon gar nicht ein banaler „Tippfehler“ in der Erbinformation.

Gott würfelt nicht, war sich Albert Einstein sicher. Nun sieht es danach aus, als ob tatsächlich gewürfelt wird. Unablässig, in Billionen unserer Zellen.

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