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Unter Verdacht. Zeichner entwerfen nach Zeugenaussagen Phantombilder.

© picture alliance / dpa

Kriminalistik: Zeugenaussagen sind besser als ihr Ruf

Entscheidend ist, wie sicher sich ein Zeuge kurz nach der beobachteten Tat ist – später kann das Urteil falsche Gewissheit widerspiegeln.

Aussagen von Augenzeugen zu Verbrechen sind offenbar oft zuverlässiger als vielfach angenommen. Amerikanische Psychologen untersuchten, wie akkurat Augenzeugen Tatverdächtige identifizieren können – und wovon dies abhängt. Wichtigstes Resultat: Schon bei der ersten Identifizierung sollten Zeugen angeben, wie sicher sie sich ihrer Aussage sind. Diese Selbsteinschätzung zu einem frühen Zeitpunkt sei zuverlässig und wesentlich glaubwürdiger als Monate oder gar Jahre später vor Gericht. Der deutsche Psychologe Karl-Heinz Bäuml von der Universität Regensburg spricht von einer sehr wichtigen Studie mit einem klaren Ergebnis, das man auch in Deutschland zur Kenntnis nehmen solle.

In vielen Strafprozessen sind die Angaben von Augenzeugen ein entscheidendes Indiz, von dem eine Verurteilung oder ein Freispruch der Angeklagten abhängt. Allerdings sind falsche Erinnerungen der wichtigste Grund für Fehlurteile. Die US-Organisation „Innocence Project“ untersuchte kürzlich 333 Schuldsprüche seit 1989, die durch Erbgutanalysen widerlegt wurden. Mehr als 70 Prozent dieser Justizirrtümer beruhten auf falschen Angaben von Augenzeugen, betonen die Psychologen um John Wixted von der Universität von Kalifornien in San Diego im Fachblatt „PNAS“.

Inzwischen haben Studien geprüft, wie zuverlässig Angaben von Augenzeugen sind – meist auf Basis von Teilnehmern, die gestellte Szenen beobachteten und danach die Täter identifizieren sollten. In den USA legen Ermittler Zeugen dazu sechs Fotos vor: Eines zeigt den Tatverdächtigen, die übrigen fünf „Füllpersonen“. Manche Studien kamen zu dem Schluss, dass solche Aussagen generell unzuverlässig sind. Andere ergaben, dass das Ergebnis besser ist, wenn die Zeugen die Bilder nicht gleichzeitig vorgelegt bekommen, sondern nacheinander. Inzwischen hätten bis zu 30 Prozent der US-Ermittlungsbehörden diese Praxis übernommen, schreiben die Forscher.

Die Zeugen schätzten richtig ein, wie sicher sie waren

Das Team wertete nun Aussagen von Zeugen echter Raubdelikte aus, bei denen die Polizei von Houston ermittelte. In der Studie sollten 717 Augenzeugen Verdächtige identifizieren – entweder anhand gleichzeitig oder nacheinander vorgelegter Fotos. Zudem sollten die Zeugen auf einer Skala angeben, wie sicher sie sich ihrer Angaben waren: sehr sicher, mäßig sicher oder wenig sicher.

Die anfängliche Selbsteinschätzung der Zeugen erwies sich im Nachhinein als zuverlässig. „Beim Zeitpunkt der ersten Einschätzung können Augenzeugen uns belastbare Informationen über ihre Zuverlässigkeit geben“, wird Wixted in einer Mitteilung seiner Universität zitiert.

Diese Erkenntnis ist keinesfalls selbstverständlich. Oft werden Augenzeugen erst vor Gericht gefragt, wie sicher sie sich sind – meist Monate oder gar Jahre nach dem Vorfall. In diesem Zeitraum kann aus einer unsicheren Annahme Gewissheit geworden sein, die Unschuldigen mitunter zum Verhängnis wird. „Es ist bekannt, dass das Gedächtnis formbar ist, sodass eine anfänglich unsichere Identifizierung bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Zeuge vor Gericht oder in Anhörungen vor dem Prozess aussagt, zur Gewissheit wird“, schreiben die Autoren. Dies müsse man berücksichtigen.

Das Urteil verfestigt sich - auch wenn es falsch ist

„Wenn man eine geringe Zuversicht anfänglich ignoriert, macht man einen großen Fehler“, sagt Wixted. „Um Unschuldige zu schützen, muss man erkennen, dass eine anfängliche Identifizierung mit geringer Gewissheit unzuverlässig ist. Andererseits, wenn die Aufstellung neutral präsentiert wird, kann eine hohe Gewissheit zu Beginn ziemlich aussagekräftig sein.“ Richter und Geschworene sollten auf beides achten, sagt der Psychologe. Andernfalls leisteten sie der Gerechtigkeit und dem Schutz von Unschuldigen einen Bärendienst.

Die Studie sei herausragend, erläutert der Regensburger Psychologe Bäuml. Es sei keine Laborstudie, sondern die Daten stammten aus der Ermittlungsarbeit der Polizei. Zudem sei die Selbsteinschätzung der Zeugen erhoben worden. Das Ergebnis, dass eine möglichst frühe Selbsteinschätzung zuverlässig sei, sei extrem deutlich. „Die Größenordnung dieses Effekts ist bemerkenswert“, sagt Bäuml. „Bislang befragt man solche Zeugen während der Ermittlungen und verlässt sich darauf, was sie vor Gericht sagen. Aber Menschen neigen dazu, ihre Urteile im Lauf der Zeit zu verfestigen. Die Erkenntnisse sollte man auch in Deutschland beachten und in die Rechtsprechung einfließen lassen.“

Walter Willems

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