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Auf einer Buchillustration geht ein schwarzer hinter einem weißen Mann hinterher, der ein Lamm auf dem Arm trägt.

© Alamy Stock Photo

Kritische Editionen von Kolonialromanen: Rassist Robinson

Daniel Defoes Roman ist keine Abenteuerlektüre für junge Leser, sondern ein Plädoyer für die Versklavung von Schwarzen. Gastbeitrag einer Anglistin und Afrikanistin.

Robinson Crusoe ist uns bekannt als der schiffbrüchige Held, der die Natur bezwingt und nahezu drei Jahrzehnte auf einer Insel lebt. Daniel Defoes gleichnamiger Roman aus dem Jahr 1719 scheint vielen ein unverzichtbarer Abenteuerbaustein im Lektürekanon zu sein. Doch tatsächlich ist „Robinson Crusoe“ ein rassistischer Roman und ein literarisches Plädoyer für Kolonialismus und die Versklavung afrikanischer Menschen. Das gilt auch für andere britische Autor*innen wie etwa Aphra Behn oder Rudyard Kipling. Dies macht es umso dringender, sich der Frage zu stellen, wie diese Texte für unsere Zeit angemessener bearbeitet, übersetzt, verlegt und verfilmt werden können.

Gerade „Robinson Crusoe“ ist heute den meisten nur aus verkürzten Nachbearbeitungen oder Verfilmungen bekannt. Kaum geläufig ist, dass Robinson Crusoe erst im letzten Drittel auf Friday trifft und dass die Hauptfigur zu Beginn des Romans selbst versklavt wird. Dabei wird aus der Ich-Perspektive Robinsons ganz im Sinne der Aufklärung klargemacht: Allein die Versklavung von Schwarzen durch Weiße ist legitim. Das beginnt bereits damit, dass Robinson zusammen mit zwei schwarzen Männern der Sklaverei entflieht, jedoch nur seine eigene Freiheit als berechtigt ansieht. So wirft er dann einen von beiden kurzerhand über Bord, als sie auf dem Fluchtboot zu verhungern drohen.

Eine lehrbuchhafte Aneignung des kolonialen Raums

Als sie kurz darauf von Portugiesen gerettet werden, schenkt Robinson ihnen den überlebenden Xury als Sklaven, wogegen dieser in Defoes Feder nicht einmal protestieren darf. Kurz darauf bedauert Robinson diese Handlung – jedoch nicht aus Empathie, sondern weil er Plantagenbesitzer in Brasilien wird und es ihm an Arbeitskraft versklavter Afrikaner*innen mangelt. Um seine Plantage profitabler zu machen, beschließt er, Sklav*innen aus Afrika zu holen. Bei dieser Reise strandet er auf der literarisch berühmten Insel.

Als homo oeconomicus eignet sich Robinson das Land und seine Ressourcen an, zähmt die Natur und lebt eine lehrbuchhafte Aneignung des kolonialen Raums vor. Mit Schrecken stellt er mehr als 28 Jahre später fest, dass „seine Insel“ gar nicht gänzlich unbewohnt war. Jedoch wird dadurch sein Glaube daran, die Insel gehöre ihm, nicht erschüttert.

Die Formel ist simpel. Um Crusoes Besitzanspruch auf die Insel zu unterstützen, erschafft Defoe Figuren, die er mit jedem Charakterzug aus dem Menschsein herausschreibt. Es handelt sich um eine Gruppe nackter und vermeintlich geschlechtsloser Kannibalen. Kannibalistische Gesellschaften gibt es nicht, doch bei Kolonialautor*innen wie Defoe ist dieser Mythos sehr beliebt. Bietet er doch die Möglichkeit, die Kolonisierten als in höchstem Maße grausam zu inszenieren, was die eigene koloniale Gewalt nicht nur verharmlost, sondern als notwendig hinstellt.

Die Unterwerfung "Freitags" lässt keinen Platz für seine Sprache und Kultur

So wird aus dem gewaltsamen Versklaver auf kürzestem Wege ein Retter: Inspiriert von einem Traum, in dem ihm ein Einheimischer zur Flucht von der Insel verhalf, erschießt Robinson mehrere Personen, um einen zu retten – Freitag. Dieser kniet vor Robinson nieder und bettet dessen Fuß auf seinem Kopf.

Was in nackter Angst wurzeln könnte, wertet Robinson sicher und vom Text unhinterfragt als „symbolischen Schwur dafür, ihm auf ewig ein Sklave sein zu wollen“. Nur folgerichtig lehrt er den jungen Mann, dass sein Name „Master“ sei, während er „Friday“ wäre – benannt nach dem Tag, an dem Robinson ihn „rettete“. Dass es Robinsons Zeitrechnung ist, die den Schwarzen benennt und Robinson keinen Gedanken daran verschwendet, wie Fridays bisheriger Name lautete, ist eine koloniale Aneignungsgeste, die auslöscht, wer Friday bis zu dieser Begegnung war – per Namen, Sprache, Kultur, Religion. Tabula rasa.

Das kann ihm (ohne Widerspruch Fridays) nur gelingen, weil die Erzählperspektive die Fokussierung auf Robinsons Sicht der Dinge zu keinem Zeitpunkt verlässt. An wenigen Stellen wird Friday (wie schon Xury) eine kleine Passage direkter Rede zugebilligt. Sie sprechen hier über kannibalistische Gelüste nach Menschenfleisch und zwar in einem fehlerhaften Englisch, das an Kindersprache erinnert und ihn intellektuell unterlegen – und damit Robinson als von Natur aus gesetzten Herrscher – erscheinen lässt.

Defoe war Aktieninhaber im Handel mit Menschen

Am Ende des Romans hat es Robinson, der seinem weißen englischen Mittelklasseschicksal entkommen wollte, tatsächlich geschafft. Die Insel nennt er „meine Kolonie“ und konstatiert stolz, dass er „unzweifelhaft das Recht habe“, über das Land, seine Reichtümer und Arbeitskräfte zu herrschen. Dabei sei „sein Volk perfekt unterworfen“ und er sei „absoluter Herrscher und Gesetzgeber“. Nicht umsonst sehen Autor*innen wie James Joyce oder Virginia Woolf in „Robinson Crusoe“ die leibhaftige Verkörperung des britischen Kolonialismus. Und auch das kommt nicht von ungefähr: Denn Daniel Defoe selbst war nicht nur Aktieninhaber im Handel mit Menschen, sondern auch der Meinung, dass England sein koloniales Engagement noch intensivieren müsse.

Angesichts dieser Verherrlichung von Sklaverei und Kolonialismus, die nicht ohne rassistische Beschreibungen und Begriffe auskommt, stellt sich die Frage, wie mit diesem Buch umgegangen werden kann. Genau genommen ist „Robinson Crusoe“ kein Kinder- und Jugendbuch. Der Roman liest sich eher als ökonomistisch sprödes Handbuch „Wie kolonisiere ich am effektivsten“. So könnte etwa die Szene, in der Robinson einige Schwarze erschießt, kaum bürokratischer erzählt werden: „3 durch ersten Schuss vom Baum getötet / 2 mit dem nächsten Schuss getötet. / 2 von Friday im Boot getötet / Gesamt 21.“

Spannend wurde "Robinson Crusoe" erst durch Bearbeitungen

Die dem Roman nachgesagte abenteuerliche Spannung wird ihm erst durch Bearbeitungen und Verfilmungen angedichtet. Indem sie den Stoff überhaupt erst spannend verarbeiten, halten sie den Mythos „Robinson Crusoe“ am Leben – und brechen dabei nicht mit seiner rassistischen Vision und dessen Verherrlichung von Sklaverei.

Auch wenn eine jüngere Verfilmung (1997) unter der Regie von Rod Hardy und George Miller – mit Pierce Brosnan als Robinson Crusoe – Friday (gespielt von William Takaku) mehr Freiheitswillen und Widerstand als der Roman zugesteht, so besteht das Happy End darin, dass sich Friday opfert, damit Robinson überlebt. Die Versklavung eines ganzen Dorfes wird dann als Happy End verkauft.

Gut drei Dekaden vor Crusoe schrieb Aphra Behn mit „Oroonoko, or the Royal Slave“ (1688) einen Roman, der einen versklavten Menschen zum Protagonisten hat. Bei der Schilderung der sogenannten Middle Passage, bei der Millionen von Afrikaner*innen ums Leben kamen, wird der Protagonist als Mathematik und Poesie studierender Flaneur auf den Schiffsbalken beschrieben. Letztlich begehrt er doch die Freiheit, rebelliert und wird zu Tode gefoltert. Die englische Ich-Erzählerin lastet diese Gewalt einem irischen Mann an und zwar mit der Mahnung, dass Sklaverei ohne Gewalt ausgeführt eine ideale Gesellschaftsform wäre. Obwohl sie ihren Protagonisten rebellieren lässt, glaubt Behn an die Möglichkeit, dass Schwarze sich freiwillig versklaven lassen könnten.

Darstellung Afrikas als dunklem Kontinent des Kanibalismus

Die Handlung von Jane Austens Roman „Mansfield Park“ (1814) spielt kurz nach dem britischen Verbot des Handels (1807) mit versklavten Menschen. Es beendete die Plantagensklaverei nicht, brachte sie aber verstärkt ins Kriseln. Doch obwohl die Familie Bertram von ihren Plantagen in Antigua lebt, verwehrt sich die Erzählperspektive konsequent der naheliegenden Möglichkeit, diesen Schauplatz zu besuchen.

Die „Todesstille“ über Sklaverei, die Austen den Bertrams einverleibt, geht in den folgenden Dekaden in eine literarische Euphorie über den Kolonialismus über. 1899 dichtet Rudyard Kipling „The White Man’s Burden“, um Kolonialismus zu intensivieren und ihn den Lesern als Pflicht an den Kolonisierten, die „halb Teufel und halb Kind“ seien, nahezubringen. Selbst ein Joseph Conrad, der Kolonialismus zu kritisieren sucht, reproduziert Erzählungen von Afrika als dunklem Kontinent des Kannibalismus.

Produkte des "normalen" Zeitgeistes?

Schon William Blake mahnte, dass es die Kolonialliteratur sei, die das Empire trage. So einfach ist es also nicht, Defoe & Co einfach nur als Produkte des „normalen“ Zeitgeistes zu sehen. Wessen Zeitgeist wäre das überhaupt? Der der Versklavten? Doch auch in Europa gab und gibt es Widerstände. Sogar schon vor Blake und anderen Abolitionisten wie Olaudah Equianos hatte William Shakespeare in „The Tempest“ und „Othello“ Sklaverei und Kolonialismus einer scharfen Kritik unterzogen.

Und selbst wenn es ein Zeitgeist war, Kolonialismus zu propagieren; wie ist er mit dem heutigen verbandelt? Was passiert in (kindlichen) Kopf-Kinos, weil Bearbeitungen und Übersetzungen dem Geiste Defoes treu bleiben – und zwar ohne kritische Kommentare? Als sei dies nicht genug, ist dem Roman, seinem Helden und dem Mann, der Defoe als eine Quelle seiner Inspiration gedient haben dürfte, Alexander Selkirk (1676–1721), 1999 in den USA sogar noch ein Feiertag gewidmet worden, der 1. Februar. Erinnerung ja, aber kritisch, nicht ehrend.

Die Autorin ist Professorin für englische und afrikanische Literaturen an der Universität Bayreuth.

Susan Arndt

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