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Jugendliche sitzen an Schultischen in einem Raum, in dem auch Werkzeugmaschinen stehen.

© Daniel Bockwoldt/picture alliance / dpa

Lage der Berufsschulen: Das Mauerblümchen des Schulwesens

Die Berufsschule steht unter Druck. Aber wenn sie ihre Stärken ausspielt, kann sie bestehen.

„Studium läuft Ausbildung den Rang ab“, überschrieb die Bertelsmann-Stiftung unlängst eine Studie, die verschiedene Szenarien für den Ausbildungsmarkt im Jahr 2030 berechnete. „Wenn sich der Trend zum Studium aus den vergangenen zehn Jahren ungebrochen fortsetzt, werden 2030 nur noch etwas mehr als 400.000 junge Menschen eine betriebliche Ausbildung beginnen. Das sind rund 80.000 weniger als heute, was einen Rückgang um 17 Prozent bedeutet“, heißt es in der Untersuchung.

Hochschulen büßen kaum Studienanfänger ein

Im Vergleich zur betrieblichen Ausbildung würden die Hochschulen dagegen trotz des demografischen Wandels und der deshalb sinkenden Zahl an Schulabgängern kaum Studienanfänger einbüßen. „Diese Entwicklung scheint vorerst unumkehrbar“, stellen die Bildungsforscher fest, weil vieles, das für ein Studium zu sprechen scheint, in der Ausbildung dem Ruf nach nicht erfüllt wird. Selbst wenn statt der Fortschreibung der bisherigen Trends eine sich möglicherweise wandelnde Studierneigung und eine gesteigerte Anziehungskraft von betrieblicher Ausbildung in den kommenden 15 Jahren zu den denkbaren Theorien zählt: „Allen Szenarien ist gemeinsam: Die Schere zwischen Studien- und Ausbildungsanfängern wird bis 2030 noch weiter auseinandergehen.“

Warum ist die Berufliche Bildung so massiv unter Druck geraten – und warum ist in der Folge die Berufsschule zum bildungspolitischen Mauerblümchen verkommen? Die Ausbildungsmarktsituation ist durch zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet. Auf der einen Seite haben Betriebe zunehmend Schwierigkeiten, ihre angebotenen Ausbildungsstellen zu besetzen. Auf der anderen Seite gibt es immer noch zu viele junge Menschen, denen der Einstieg in Ausbildung nicht unmittelbar gelingt. Das Ausbildungssystem – und damit auch die berufsbildenden Schulen – leidet an strukturellen Mängeln.

Die Zahl der Ausbildungsplätze und der Bewerber geht zurück

Fachkräftemangel: Seit 2007 ist die Zahl der Bewerber für alle Ausbildungsplätze bundesweit von 756.000 auf 613.000 gesunken – ein Rückgang um 19 Prozent. Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze ging von 644.000 auf 563.000 zwar ebenfalls zurück, trotzdem bleiben Lehrstellen schon rein rechnerisch unbesetzt.

Ein weiterer Rückgang der Auszubildendenzahlen könnte in vielen Branchen einen Fachkräftemangel beschleunigen, weil zugleich geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen. Schätzungen zufolge werden 2030 rund 10,5 Millionen Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Fachabschluss aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Auch Arbeitgeber suchen nach immer höher Qualifizierten

Der Trend zum Bildungs-Upgrade: Die Wahl immer höherer Bildungsabschlüsse durch immer mehr Jugendliche und die damit verbundene Zunahme der Studienanfängerquote führt zu einem Absinken der Ausbildungsquote – das Schlagwort vom „Akademisierungswahn“ hat diese Entwicklung pointiert beschrieben. Doch es gibt eine Parallele aufseiten der Arbeitgeber: Sie suchen nach immer höher qualifizierten Mitarbeitern und fördern so die Hinwendung zu entsprechend höher qualifizierenden schulischen Ausbildungswegen.

Kaum Chancen mit Hauptschulabschluss: Laut einer Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes blieben von knapp 44.000 offenen Stellen des Lehrstellenjahrs 2014 etwa 62 Prozent Jugendlichen mit Hauptschulabschluss verschlossen. Obwohl viele Betriebe händeringend Auszubildende für ihre Lehrstellen suchen, setzten sie nach wie vor auf eine Bestenauslese. Damit bleibt das System, das einst für die niedrigeren Schulabschlüsse prädestiniert war, vielen verschlossen. 2005 begannen nur 48 Prozent der Bewerber mit Hauptschulabschluss direkt eine betriebliche Lehre oder vollzeitschulische Ausbildung. 2013 waren es mit 51 Prozent unwesentlich mehr.

Es fehlen Angebote für Zuwanderer ohne formellen Anspruch

Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es ungleich schwerer: Nur 37 Prozent von ihnen finden direkt eine Lehrstelle – deutlich weniger als deutschstämmige Hauptschüler (54 Prozent). Prekäre Beschäftigung für lediglich angelernte Hilfskräfte ist die Folge, Zuwanderung in die betriebliche Ausbildung findet also kaum statt. In Bezug auf die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, erschweren fehlende oder nicht anerkannte Schulabschlüsse aus dem Ausland den Zuwanderern den Eintritt in den Ausbildungsbetrieb. Auch ein Berufsschulsystem, das Zuwanderer außerhalb der Schulpflicht auch außerhalb eines Rechtsanspruches anspricht, fehlt in Deutschland flächendeckend. Integration über Ausbildung kann so nicht stattfinden.

Kaum durchlässige Bildungswege: Die strikte Trennung zwischen akademischer und betrieblicher Ausbildung entspricht nicht mehr der Realität. Trotzdem stehen sich Studium und Ausbildung meist konkurrierend gegenüber. Es fehlt eine bessere Verzahnung beider Ausbildungswege durch wechselseitige Anerkennung von Leistungen – so gibt es zu wenige Hochschulangebote für beruflich Qualifizierte.

Was können nun die Berufsschulen tun, damit sich diese düsteren Entwicklungen nicht verfestigen? Sie haben besonders weitreichende Möglichkeiten, denn gerade die Problemkomplexe Akademisierung und Konkurrenz mit dem Bachelor-System sowie die Integration von Zuwanderern durch Bildung lassen sich in erster Linie in den Berufsschulen gestalten, reformieren und verbessern.

Berufsschulen sind durchaus kompetent in der Problemlösung

Die berufsbildenden Schulen haben zum Teil jahrzehntelange Erfahrungen mit etlichen der aktuellen Herausforderungen. Das reicht vom Umgang mit ausgesprochen heterogenen und diversen Schülergruppen und die damit verbundene Abkehr von Leistungshomogenität und der Zielgleichheit klassischer Unterrichtskonzepte über die Individualisierung des Lernens bis hin zur nunmehr auch an Gymnasien diskutierten stärkeren Orientierung an der Praxis des Arbeitsmarkts.

Der zunehmende Wettbewerb im schulischen Bildungssektor, der aus der demografischen Entwicklung und den deshalb zurückgehenden Schülerzahlen entsteht, führt dazu, dass die klare Segmentierung und gewissermaßen automatische Zuteilung der Schüler zu bestimmten Bildungsgängen sich auflöst. Die Berufsschule muss ihren Platz im sich verändernden Bildungssystem zwar erst noch finden und dann gegen andere Bildungsanbieter behaupten – aber sie bringt aus ihrer Geschichte heraus etliche Problemlösungskompetenzen mit, die an anderen Schulformen gerade erst mühsam erarbeitet werden. Und es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Anders als häufig wahrgenommen, bieten die berufsbildenden Schulen mit ihrer starken Ausdifferenzierung der angebotenen Bildungsgänge die ideale schulische Plattform für ein Lernen, das die Option für eine weiter gehende und höher qualifizierende Schulkarriere offen lässt.

Die Schulen brauchen eine starke Stimme

Um als leistungsfähiges, innovatives Schulsystem in sinnvoller, pädagogisch-fachlicher Differenzierung die wissensbasierte Grundlage für eine nachhaltige Qualifikation ihrer Schülerinnen und Schüler legen zu können, müssen die berufsbildenden Schulen die notwendigen finanziellen und pädagogischen Kapazitäten selbstbewusst einfordern. Und sie müssen offensiv zeigen, wie sie welche Herausforderungen bereits erfolgreich angenommen und in schulische Lernprozesse transferiert haben. Als Schulform mit den meisten Schülern in Deutschland brauchen die Berufsschulen eine starke Stimme – nicht zuletzt auch deshalb, um sich den Platz als gleichberechtigter Partner in berufsbildenden Prozessen zurückzuerkämpfen.

Ein „weiter so“ in einer selbstgewählten Abhängigkeit von nicht zu beeinflussenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen würde die Berufsschulen jeglicher Gestaltungsmacht berauben. Stattdessen müssen sie die zahlreich vorhandenen positiven Beispiele ihrer Arbeit identifizieren, strategisch und flächendeckend etablieren und damit von vorneherein jedem Versuch entgegentreten, die berufliche Schulbildung etwa durch eine Verkürzung der Berufsschulpflicht oder der Stundenzahl zu entwerten – wie es nicht wenige Arbeitgeber fordern. Berufspraktische Lernprozesse ohne schulische Beteiligung mögen denkbar sein – sinnvoll sind sie auf keinen Fall.

Gute Lernorte für hunderttausende Jugendliche

Wer gute, nachhaltig und zukunftsorientiert denkende Mitarbeiter und Mitglieder der Gesellschaft bilden will, kommt an starken, dem allgemeinen Bildungsgedanken verpflichteten Berufsschulen nicht vorbei. Wir brauchen sie mehr denn je: als Motor und Ideengeber im Bildungssystem. Und vor allem als gute Lernorte für hunderttausende Jugendliche.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch der beiden Autoren: Berufsschulen auf dem Abstellgleis. Wie wir unser Ausbildungssystem retten können. Edition Körber Stiftung, 240 Seiten, 16 Euro.

Katharina Blaß, Armin Himmelrath

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