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Aggressiv. Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß im Jahr 1980.

© Roedel / Keystone

"Lahmer Wahlkampf": Sieg über Hass und Häme

Dem Wahlkampf wird Langeweile vorgeworfen. Dabei ist es ein Gewinn, dass es heute ohne Gebrüll geht.

Dieser Wahlkampf bietet, so klagen alle, ein Bild des Jammers: keine Leidenschaft, ohne echte Kontroverse, geradezu langweilig. Die Kanzlerin präsentiert sich soft und vage, dem Kanzlerkandidaten der SPD wird zu wenig Offensivgeist vorgeworfen, und wie die beiden sich unterscheiden, muss man ohnehin mit der Lupe ermitteln. Da gerät es schon zum Aufreger, wenn Angela Merkel der SPD Unzuverlässigkeit in der Euro-Politik attestiert, oder wenn aus Kreisen der Grünen ein Veggie Day propagiert wird. Freilich beklagt sich der Herausforderer, von den Medien ungerecht behandelt zu werden, aber das gehört zum Wahlkampf dazu. Es mobilisiert und hilft außerdem, danach den Misserfolg zu erklären. Die Bundeskanzlerin erfährt ja von den Medien auch nicht viel mehr Zuneigung. Aber weder der Vorwurf der Visionsfreiheit noch „Muttis Hände“ können ihr viel anhaben. Denn im Unterschied zu Steinbrück klagt sie nicht darüber und nimmt so den Themen ihre Brisanz.

Kaum Störungen oder körperliche Auseinandersetzungen werden registriert, außer vielleicht ein paar aufgeregte Jusos, die die Kanzlerin in Seligenstadt auspfeifen. Am meisten Randale noch bei der eurokritischen „Alternative für Deutschland“, deren Veranstaltungen einige Male von vermummten Autonomen gestört wurden. Was für ein Land, in dem sogar die Autonomen Merkels Euro-Politik verteidigen!

Schwingt in der Klage über die Langeweile aber vielleicht nicht nur das Interesse an der Kontroverse, sondern auch ein Unterhaltungsbedürfnis mit, nach einem Wahlkampf, der Spektakel ist und nicht ein nüchternes Stück politischer Debatte? Denn man könnte einwenden: Seien wir doch froh! Es ging nämlich schon mal anders zu. Die Älteren werden sich noch erinnern, wie Wahlkampf in der Bundesrepublik früher aussah: mit Haken und Ösen, mit harten verbalen Bandagen, die Grenze zur Beleidigung oft weit überschritten. Wenn man sich den Ton der Wahlkämpfe bis in die frühen 1980er Jahre ins Gedächtnis ruft, fragt man sich, ob die Akteure auch nur einen Gedanken daran verschwendet haben, dass sie danach im Bundestag auch wieder zusammenarbeiten mussten.

Bis zum Anfang der 1980er Jahre gehörte es einfach zum bundesdeutschen Wahlkampf dazu, sich gegenseitig als Lügner und Betrüger zu beschimpfen. Und nicht nur das. Eine infame, von allen geteilte Spezialität war, dem Gegner eine Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen. Ohne jegliche politisch korrekten Bedenken warnte die SPD 1957, dass man Adenauer nicht, wie weiland Hitler, zwölf Jahre Zeit geben solle. Das war freilich eine Antwort auf die Behauptung Adenauers, ein Sieg der SPD würde den Untergang Deutschlands bedeuten. Aber selbst Reinhold Maier, führender Politiker der FDP und damit immerhin Koalitionspartner Adenauers, warnte 1957 vor einer absoluten Mehrheit mit der Behauptung, die CDU bereite die „totale Machtergreifung im Staate“ vor.

Die Nazi-Keule zog immer und war beliebig einsetzbar. Oft paarte sie sich aber auch absurd mit dem Gegenteil. Am schlimmsten traf es 1961 Willy Brandt, der sich einerseits den Vorwurf anhören musste, er habe („Brandt alias Frahm“) seinen Namen gewechselt und habe mit der Flucht vor den Nazis sein Vaterland verraten. Gleichzeitig aber verglich ihn der CDU-Rechtsaußen Richard („Kopf-ab“) Jaeger mit – Adolf Hitler, denn dieser habe ja eigentlich auch anders geheißen, nämlich Schicklgruber. Solche widersprüchlichen Unterstellungen trafen auch die FDP, in der sich bis in die 1960er Jahre viele Alt-Nazis befanden und die deshalb auch als „Hitlerjugendpartei“ tituliert wurde. Andererseits war ja der Liberalismus in der Weimarer Republik stark von Juden dominiert gewesen, so dass sie gleichzeitig in den Ruch einer „Judenpartei“ kam: Hauptsache bösartig.

All dies war nicht nur ein Kennzeichen der Frühzeit der Bundesrepublik. Edmund Stoibers fabulöse Gleichsetzung von Sozialisten und Nationalsozialisten von 1979 zog ihre Spur. Franz Josef Strauß hielt 1980 den Störern seiner Veranstaltungen vor, die seien die besten Nazis, die es je gegeben habe. Allerdings setzte er sich damit gegen Unterstellungen bis aus den Kreisen der Jusos zur Wehr, die ihn ihrerseits als Faschisten verdächtigten. Sogar Helmut Schmidt musste ihn dagegen in Schutz nehmen.

Doch es blieb nicht bei Worten. Vor allem, wenn die Zeiten besonders politisiert waren, war Wahlkampf in der Tat häufig: Kampf. Versammlungen wurden gestört, immer wieder kam es zu tätlichen Angriffen auf Kandidaten und zur Erstürmung von Rednerbühnen. Es war in den 1950er Jahren vor allem das christdemokratische Jungvolk, das Plakatabreißkolonnen gegen die SPD organisierte, Versammlungen aufmischte und Schlägereien anzettelte. Konrad Adenauer dankte 1953 offiziell diesen jungen Leuten, „die oft unter Einsetzung ihrer Fäuste den Plakatkrieg geführt haben“. Das Wahlhandbuch der FDP gab 1957 detaillierte Anweisungen, wie man Ordnertruppen aufstellen und Gegner aus dem Saal bugsieren könne.

Es war vor allem die SPD, die seit dem Anfang der 1960er Jahre auf die Botschaft setzte, dass gute Demokraten anständige Leute seien, die sachlich argumentierten und solche Formen der Auseinandersetzung nicht nötig hätten. Wer Plakate abreißt und Versammlungen stört, der ist kein Demokrat: Eine solche Botschaft hatte Sogwirkung, zumal die Bürger erkennbar einen zivileren Umgang wünschten. 1965 wurde sogar ein Fairnessabkommen zwischen den Parteien abgeschlossen, das einen friedlicheren Umgang untereinander herbeiführen sollte. Der hochpolitisierten Atmosphäre seit den späten 1960er Jahren, mit Studentenbewegung, Notstandsgesetzen und Ostpolitik, musste aber auch die Wahlkampfkultur Tribut zollen. Zwar wurde es 1969 nicht so schlimm wie prognostiziert – Helmut Schmidt hatte 30 Tote vorausgesagt –, aber die 300 Verletzten, die in diesem Wahlkampf anfielen, sprachen doch eine deutliche Sprache. Auf Gegendemonstranten einer NPD-Veranstaltung wurde auch tatsächlich geschossen. In der Bundeshauptstadt Bonn wurden in diesem Wahlkampf 70 Prozent aller CDU-Plakate zerstört. Allerdings hatte das Fairnessgebot jetzt doch eine solche Sogwirkung, dass die SPD diese Plakate auf eigene Kosten wieder anklebte.

Ein unrühmlicher Höhepunkt war der Wahlkampf von 1980, als ein polemischer Helmut Schmidt auf einen aggressiven Franz Josef Strauß traf, der sich nicht nur als Nazi beschimpfen lassen musste, sondern auch in die Nähe der geistigen Unzurechnungsfähigkeit gerückt wurde. Eine Fernsehdiskussion der Kandidaten, die „Stil und Formen des Wahlkampfs“ debattieren wollte, lief so aus dem Ruder, dass der Moderator Friedrich Nowottny resigniert meinte, man sei doch nicht hier, um zu demonstrieren, in welche Niederungen dieser Wahlkampf geführt habe. Fast die Hälfte der Bürger nannte den Wahlkampf 1980 „brutal“, und reflexhaft wurde von vielen Seiten gefragt, ob Bonn nicht doch Weimar sei.

Das fürchtet heute niemand mehr. Seit damals hat sich eine international ziemlich einzigartige Zivilität der politischen Auseinandersetzung entwickelt, die erstaunlicherweise trotz der weitreichenden Weichenstellungen seither stabil geblieben ist. Demokratie gibt sich in Deutschland sachlich, ruhig und gemessen; Aufregung, Leidenschaft, Beleidigung: Das gilt als populistisch. Ein wichtiger Grund dafür ist in der Tat ein sehr weitreichender Konsens in der Bundesrepublik, der dazu führt, dass fast alle mit fast allen koalieren können. Was aber soll daran beklagenswert sein? Man könnte es ja auch demokratische Kultur nennen.

Freilich hat eine solche politische Konstellation eine Folge, die vielen Sorge macht: Die Wahlbeteiligung sinkt. Bei circa 70 Prozent stand sie 2009, was so ungefähr internationales Normalmaß ist. Aber die Deutschen sind mit Quoten von 90 Prozent in den 1970er Jahren ja verwöhnt. Diese waren indes auch eine Folge der unerhörten Konflikte dieser Jahre, und man könnte umgekehrt sagen: Wer hohe Wahlbeteiligung will, muss viel Polarisierung wollen. Wäre dies denn vorzuziehen? Der maue Wahlkampf und der weitreichende Konsens sind ja offensichtlich auch Ausdruck einer großen Zufriedenheit der Bürger, und aktuelle Umfragen bestätigen das. Wäre es besser, sie wären unzufrieden?

Keine Frage, dass es genug zu tun gibt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter klafft, dass Infrastruktur und Bildung ebenso Baustellen sind wie die Rentenfrage. Aber man könnte ja auch darüber froh sein, dass solche Fragen sich in einer Atmosphäre diskutieren lassen, die den politischen Gegner nicht mit Polemik überzieht. Und für die Unterhaltung gäbe es ja immer noch den Fußball und die revolutionäre 1.-Mai-Demo.

Der Autor ist Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität.

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