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Wer würde da nicht gerne reinbeißen? Schließlich ist gegen einen gesunden Apfel nichts einzuwenden.

© Cinetext/Allstar/Disney

Lebensmittel: Leckeres Gift

Die Deutschen haben Angst vor Pestiziden im Gemüse, Dioxin in Eiern und sogar Genen im Honig. Dabei ist die größte Giftmischerin Mutter Natur selbst.

Erinnern Sie sich noch? Nur neun Monate ist es her, da wurden mehrere tausend Bauernhöfe in der Republik gesperrt, Dutzende von Existenzen zerstört, zahlreiche gesunde Firmen wegen mikroskopischer Dosen von Dioxin in Schweinefleisch und Eiern in den Ruin getrieben. Die vermeintliche Gefahr stellte sich bald als Fantasieprodukt heraus. Die erlaubten Höchstwerte von 3 Billionstel Gramm Dioxin pro Gramm Fett im Ei oder 12 Billionstel Gramm pro Gramm Fett im Schwein wurden hier und da überschritten, aber Gefahren für Gesundheit, Leib und Leben waren nie vorhanden. Real war nur der erzeugte Schaden.

Dabei hätte man etwa von Anfang an wissen können oder sollen, dass während der ganzen Zeit in regulär vermarkteten Ostseefischen pro Gramm weit mehr Dioxin enthalten war als in den am schlimmsten „verseuchten“ Eiern überhaupt. Für Lachs, Makrele und Heilbutt erlaubt die Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel Werte von zwei bis drei Billionstel Gramm pro Gramm Frischgewicht, für Aale sogar 12 Billionstel Gramm, und dieser ganz legale Grenzwert wird in der Praxis oft weit überschritten, ohne dass irgendjemand sich darüber aufregt.

Und so wurde die Hetzjagd nach einem Monat wieder abgeblasen. In diesen vier Wochen der Dioxin-Panik wurden in Deutschland (ich extrapoliere einmal die Zahlen vom Januar 2009) 32 Menschen ermordet, 296 von Autos totgefahren, 740 fielen im Haushalt von der Leiter und brachen sich das Genick (oder kamen bei anderen häuslichen Unfällen ums Leben), 46 starben an verschluckten Fischgräten und Schinkenscheiben, je 14 durch Ertrinken (im Januar!) und Erfrieren , 30 an Verbrennungen, mehrere Hundert durch Unfälle bei der Arbeit, von den tausenden frühzeitigen Todesfällen durch Alkohol und fettes Essen allein in den ersten vier Wochen des Jahres gar nicht erst zu reden.

Es gibt durchaus gefährliche Gifte in unserer Nahrung, mehr als genug. Aber die meisten sind nicht künstlich, sondern von Natur aus drin. Die in zwei Muskatnüssen enthaltenen Mengen der Gifte Myristicin und Elemicin reichen zum Beispiel aus, ein Kind umzubringen. Auch in Dill und Petersilie ist das giftige Myristicin. Die hochgiftige Blausäure kommt in fast allen anderen pflanzlichen Lebensmitteln vor, besonders konzentriert in Leinsamen und Bittermandeln. Mehr als zwei Kochlöffel täglich von Letzteren, und man darf den Doktor rufen. Rohe Grüne Bohnen – schon fünf bis sechs Stück – rufen schwerste blutige Darmentzündungen hervor, und auch die besten biologisch angebauten Karotten enthalten das Nervengift Carotatoxin plus eine ganze Reihe weiterer giftiger Substanzen sowie sogenannte Isoflavone, die eine östrogene Wirkung besitzen, also weibliche Sexualhormone imitieren. Äpfel, Birnen oder Pflaumen enthalten giftige Kaffeesäure, Aprikosen, Kirschen, Pfirsiche und Pflaumen enthalten Chlorogensäure, Orangen enthalten d-Limonen (können Allergien auslösen), kaltgepresstes Olivenöl enthält Perchlorethylen.

Genetisch veränderter Honig eine Gefahr? - lesen Sie mehr auf Seite 2.

Und während genetisch veränderte Maispollen im Honig noch niemandem geschadet haben, kann die Süßigkeit den Krankheitserreger Clostridium botulinum enthalten, der bei Babys zu einer Lähmung des Darmes und einer hartnäckigen Verstopfung führen kann. Das Robert-Koch-Institut empfiehlt daher, Kindern im ersten Lebensjahr keinen Honig zu geben. Das Gift, das die Bakterien erzeugen, das Botulinustoxin ist das stärkste Nervengift der Welt. Weniger als ein Gramm des Giftes, das in Fleischwaren ganz natürlich entstehen kann, würden ausreichen, ganz Deutschland zu entvölkern.

Viele dieser von Natur aus in Pflanzen enthaltenen Stoffe sind nicht nur giftig, sondern auch als Krebserzeuger oder Chromosomenbrecher nachgewiesen. So kann Allylisothiocyanat, ein Abbauprodukt des in Kohl enthaltenen Sinigrin, schon bei 0,0005 Milligramm pro Kilogramm (abgekürzt auch ppm = „parts per million“ = Teilchen pro Million) Chromosomenbrüche erzeugen. Und Kohl enthält bis 590 ppm natürlich hergestelltes Sinigrin, Rosenkohl bis zu 1500 ppm, brauner Senf sogar bis zu 72.000 ppm. Einer der stärksten krebsfördernden Stoffe überhaupt, das Aflatoxin, wird in der Natur von einem Schimmelpilz gebildet, der auf Brot, Wurst oder Käse wächst.

Mein persönlicher Favorit sind Himbeeren. Ich konnte sie von Kind an nicht leiden, und jetzt weiß ich auch, warum. Natürliche Himbeeren enthalten: 34 verschiedene Aldehyde und Ketrone (viele giftig), 32 verschiedene Alkohole (einige giftig), 20 verschiedene Ester (die meisten giftig), 14 verschiedene Säuren (fast alle giftig), 3 Kohlenwasserstoffe und 7 Verbindungen anderer Stoffklassen. Nach geltenden Gesetzen müsste daher die Produktion von Himbeeren, sollte etwa die Firma Nestlé eine Lizenz dafür verlangen, nach deutschem Lebensmittelrecht verboten werden.

Mutter Natur ist eine Giftmischerin. „Nach unserer Berechnung sind 99,99 Prozent – nach Gewicht – aller Pestizide in amerikanischen Nahrungsmitteln solche, die von den Pflanzen selbst produziert werden, um sich gegen ihre Feinde zu verteidigen“, schreibt der amerikanische Biochemiker Bruce Ames in einer viel zitierten Studie . „Die natürlichen Chemikalien bestreiten den Riesenanteil aller Chemikalien in unserer Ernährung und sollten deswegen als Vergleichsmaßstab dienen, wenn wir die mögliche Krebsgefährdung durch synthetische Chemikalien quantifizieren. Nach unserer Schätzung essen Amerikaner ungefähr 1,5 Gramm natürlicher Pestizide pro Tag, ungefähr 10 000-mal so viel, wie sie an synthetischen Pestiziden zu sich nehmen.“

Die folgenden weiteren natürlichen Gifte, neben dem schon erwähnten Sinigrin, fanden Ames und seine Koautoren allein in normalem Kohlgemüse: Cyanid, Menthol, Carvon, Phenol, Glucoibeverin, Epiprogoitrin, Glucoraphanin, Glucoerysolin, Glucotrapaolin, Neoglucobrassicin, Indol-3-Carbinol, Indol-3-Methycyamid, Goitrin und Bassicin – kein Wunder, dass normaler Bio- wie auch Standard-Kohl, sofern nicht von Menschen aufgegessen, in Deutschland als Sondermüll behandelt werden muss.

Auch Tafeltrauben sind nicht ohne - lesen Sie mehr im 3. Teil.

Der Artikel von Ames, in der berühmten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences bereits im Jahr 1990 erschienen, hat in den Wissenschaften für ein gehöriges Umdenken gesorgt. Aber leider nur dort. Die Verbraucher essen weiter unbekümmert und in großen Mengen natürliche Gifte aller Art und geraten in Panik, wenn von künstlichen Pestiziden oder Zusatzstoffen die Rede ist. Nach einer Umfrage von Greenpeace aus dem Jahr 2007 wollen 71 Prozent aller Bundesbürger, dass überhaupt keine Rückstände künstlicher Pestizide in Obst und Gemüse enthalten sind. Und stolze 88,8 Prozent aller Bundesbürger fordern sogar, dass konventionell angebaute Waren wie etwa Tafeltrauben, bei denen wiederholt „zu hohe“ Rückstände festgestellt werden, grundsätzlich nicht mehr angeboten werden dürften.

Kein Wunder, denn auch zu den modernen Massenmedien ist die Übermacht der natürlichen über die künstlichen Pflanzengifte noch nicht durchgedrungen, hier dominieren weiterhin Meldungen wie „Neuer Schock! So werden unsere Kartoffeln vergiftet!“ So überschreibt etwa eine große Fernseh-Programmzeitschrift einen typischen reißerischen Bericht über Pestizide in Kartoffeln. „Jede Knolle fünfmal chemisch behandelt. Wer soll das noch essen?“

Man ist versucht, dem Schreiber dieser Zeilen drei Pfund Bio-Kartoffeln einzustopfen. Deren grüne Stellen enthalten, wie die grünen Stellen anderer Kartoffeln auch, große Mengen des hochgiftigen Solanin. Ein halbes Gramm davon ist tödlich, aber schon sehr viel kleinere Dosen können zu Magen-Darm-Beschwerden führen. Im Jahr 1978 ist es in England zu einer Massenvergiftung durch Solanin in den Kartoffeln einer Schulküche gekommen. Ähnliche Massenvergiftungen durch Nitrate oder künstliche Pestizide, ohne die so manche Kartoffel heute niemals auf den Teller käme, sind dagegen bislang nicht bekannt.

Genauso wie das natürliche Solanin wollen auch künstliche Gifte die Kartoffeln schützen. Sie haben es auf die Schädlinge und nicht auf die Menschen abgesehen. Trotzdem gelangen immer wieder alarmistische Pressemitteilungen wie die folgende vom 4. Februar 2010 über eine Greenpeace-Studie zu Pflanzenschutzmitteln auch in die seriösen Medien; man hatte 17 Spritzmittel gefunden, die von deutschen Verbrauchern besonders häufig durch Lebensmittel aufgenommen werden. „Darunter weiterhin das BASF-Produkt Iprodion auf Kopfsalat, das trotz seiner vermutlich krebserregenden Wirkung eingesetzt wird. Oder das neurotoxisch wirksame Fungizid Cyprodinil von Syngenta, das Greenpeace in Tafeltrauben festgestellt hat.“

Greenpeace hat ein Fungizid in Tafeltrauben festgestellt! Gibt es eine Meldung mit weniger Informationsgehalt? Wir nehmen jeden Tag Gift zu uns, hauptsächlich aus dem üppigen Giftschrank von Mutter Natur. Wer sich davor hundertprozentig schützen will, darf überhaupt nichts essen. Den anderen empfehle ich: Nicht zu viel von einer Sache essen, eine gesunde Mischvergiftung eben. Und alle Panikmeldungen von Greenpeace ignorieren.

Walter Krämer ist Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund und Buchautor.

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