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Ein Schüler sitzt in der Klasse und stützt seinen Kopf auf den Arm.

© imago stock&people

Lehren aus Pisa: Bildung bleibt Bürgerrecht

Frühe Trennung, Halbtag, fehlende Förderung: Der Abstieg bei Pisa ist auf typische Merkmale des deutschen Schulsystems zurückzuführen. Ein Gastkommentar.

Renate Valtin ist Professorin i.R. für Grundschulpädagogik an der Humboldt Universität zu Berlin, war Mitglied im deutschen Team der Iglu-Studie 2001 bis 2016 und ist Vizepräsidentin der Europäischen Lesegesellschaften FELA.

„Bildung ist Bürgerrecht“ – mit diesem programmatischen Buchtitel verwies Ralf Dahrendorf 1965 auf die Aufgabe des Staates, durch eine aktive Bildungspolitik reale Bildungs- und Teilhabe-Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Und er forderte Chancengleichheit, um die damals schon erkannte Bildungsbenachteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aufzuheben.

Das „katholische Arbeitermädchen auf dem Lande“ wurde zum Prototyp von Bildungsbenachteiligung. Heute – mehr als 50 Jahre später – müssen wir feststellen, dass unser Staat bei dieser Aufgabe nach wie vor versagt. Zwar sind es heute andere Gruppen, die benachteiligt sind. Bildungsferne, Migrationshintergrund und Geschlecht (männliche Kinder und Jugendliche) gelten als Risikofaktoren; aber der starke Zusammenhang zwischen Schulerfolg und Herkunft besteht nach wie vor, und er ist in kaum einem der OECD-Länder so eng wie in Deutschland.

Dies belegen die verschiedenen Erhebungen von Pisa und Iglu, der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung. Mit seinen typischen Merkmalen ist das Bildungssystem in Deutschland weniger gut als in anderen Ländern in der Lage, familiär bedingte Ungleichheit in den Bildungschancen zu kompensieren.

Ungünstigere Lernbedingungen

Wir leisten uns – weltweit einzigartig – eine Halbtagsschule mit vielen Selektionsmaßnahmen, von denen Kinder aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund besonders häufig betroffen sind. Sie bleiben häufiger sitzen und werden öfter abgeschult in eine niedrigere Schulart, wie Förderschule oder Hauptschule, wo sie ungünstigere Lernbedingungen vorfinden. 

Längst bekannt sind die institutionellen, schulstrukturellen und unterrichtlichen Maßnahmen, die zum Abbau der gravierenden Bildungsbenachteiligung beitragen können. Notwendig sind zum einen gezielte Elternarbeit (Family Literacy) und die Sicherung einer qualitativ hochwertigen Bildung und Erziehung im Elementarbereich.

Da der Schulerfolg von der Beherrschung der deutschen Bildungssprache abhängig ist, brauchen wir zum anderen frühzeitige Sprachstandserhebungen und eine verpflichtende Förderung von Kindern mit entsprechendem Bedarf schon vor Schuleintritt. Schülerinnen und Schüler auf den unteren Stufen der Lesekompetenz benötigen zudem einen verbrieften Anspruch auf gezielte schulische Unterstützung und Förderung durch besonders qualifiziertes Personal.

Zwei Drittel der Leseschwachen ohne spezielle Förderung

Es ist ein Skandal, dass nach wie vor zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler, bei denen laut Iglu-Lesetest ein Förderbedarf besteht, keinerlei spezielle schulische Förderung erhält.

Deutschland ist weltweit das einzige Schulsystem, das Kinder schon nach vier Schuljahren in unterschiedliche Schularten aufteilt. Die OECD-Analysen belegen, dass eine frühe Aufteilung nicht der Förderung der Leistungen dient, sondern die soziale Auslese verstärkt. Eine Verlängerung des gemeinsamen Lernens und die Erhöhung der Durchlässigkeit im Schulsystem sind dringend erforderlich.

Ein Porträtbild von Renate Valtin.
Renate Valtin, emeritierte Professorin für Grundschulpädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin.

© Promo

Während in anderen Ländern Ganztagsschulen selbstverständlich sind (und der Ausdruck Ganztags-Schule ein Pleonasmus ist), besuchen in Deutschland im Bereich der Grundschule nur sechs Prozent eine Ganztagsschule mit rhythmisiertem Angebot. Von diesem Schultyp sind aber besonders günstige Wirkungen auf die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten. Ein flächendeckender Ausbau von derartigen Ganztagsschulen ist notwendig.

Überfällig ist auch eine qualitativ hochwertige Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, damit sie besser befähigt werden, eine zunehmend heterogener werdende Schülerschaft zu erziehen und zu unterrichten.

Es fehlt eine nationale Strategie

Die hier genannten Forderungen haben wir in unserem Iglu-Team von der ersten Erhebung 2001 an bis zur gegenwärtig letzten Erhebung 2016 fast schon gebetsmühlenartig wiederholt.  Zwar gibt es viele großartige Projekte und Initiativen in einzelnen Bundesländern, aber es fehlt eine nationale Strategie. Und ohne eine Erhöhung der Bildungsausgaben, die mit gegenwärtig 4,3 Prozent des Bruttosozialprodukts weit unter dem OECD-Durchschnitt von 5,2 Prozent liegen, sind diese Vorhaben nicht zu finanzieren.

Im Übrigen plädiere ich dafür, den unseligen Ausdruck „Risikoschüler“ aus unserem Wortschatz zu streichen: Nicht die Schüler sind ein Risiko für die Schule. Tatsächlich ist in Deutschland die real existierende Schule das Risiko für manche gesellschaftliche Gruppen.

Renate Valtin

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