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Motivierend vor der Klasse. Die Zukunft braucht Lehrer, die Schüler dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken selbstständig zu lernen, sagt Andreas Schleicher. Allein Wissen zu vermitteln reicht nicht aus.

© Britta Pedersen/dpa

Lehrer in Deutschland: „Wir sind zu oft Gefangene etablierter Praxis“

Vor dem internationalen Lehrerkongress in Berlin: OECD-Bildungschef Andreas Schleicher erklärt im Tagesspiegel-Interview, was Lehrkräfte heute können müssen.

Herr Schleicher, in dieser Woche treffen sich 400 Lehrkräfte und Schulexperten aus 23 Staaten in Berlin. Was kann ein Repräsentant etwa aus China oder Singapur mit einer Vertreterin aus Estland oder Brasilien sinnvoll besprechen? Die Schulwelten sind doch sicher sehr unterschiedlich?

Darin liegt doch gerade das Potenzial, wir sind zu oft Gefangene etablierter Praxis und wissen viel zu wenig darüber, wie in den Klassenzimmern anderer Länder und Kulturen gelernt und unterrichtet wird. Vor einigen Jahren war die britische Schulministerin Elizabeth Truss in Schanghai und so begeistert vom Mathematikunterricht dort, dass sie 50 chinesische Mathematiklehrer nach England einlud. An dem Abend, an dem diese Initiative angekündigt wurde, nahm ich an einer BBC-Fernsehrunde teil. Ein britischer Gewerkschaftsvertreter beschwerte sich dort über die in seinen Augen wegen der großen kulturellen Unterschiede naive Maßnahme. Ich fragte ihn, ob er von den Chinesen, die über tausend Jahre an mathematischen Unterrichtskonzepten gearbeitet haben und wo sich heute die zehn Prozent der sozial schwächsten Schüler in Schanghai mit dem Viertel der Schüler aus den reichsten englischen Familien messen können, nichts, aber auch gar nichts, lernen könne. Heute gibt es in vielen englischen Schulen Austauschprogramme mit chinesischen Lehrern, wo britische und chinesische Lehrer begeistert gemeinsam neue Unterrichtskonzepte entwickeln und umsetzen – mit Unterstützung sowohl der Bildungsbehörden als auch der Gewerkschaften.

Der Kongress diskutiert, wie Lehrkräfte ausgebildet sein müssen, um „beste Lernergebnisse“ zu erzielen. Was müssen Lehrkräfte können, um einen sehr guten Unterricht zu machen?

Es ist heute unverantwortlich, einem Schüler eine Arbeit auf Lebenszeit zu suggerieren. Was heute zählt, ist die Motivation und Fähigkeit der Menschen, ihren eigenen Horizont in einer sich ständig verändernden Gesellschaft jeden Tag zu erweitern. Traditionell erfolgte der Zugang zum Lernen durch den Lehrer, der Wissen vermittelt. Die Zukunft braucht aber Lehrer als Experten, die Schüler begleiten und dabei unterstützten, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen.

Andreas Schleicher (51) leitet bei der OECD die Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat für Bildung. Er ist der internationale Koordinator der Pisa-Studien.
Andreas Schleicher (51) leitet bei der OECD die Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat für Bildung. Er ist der internationale Koordinator der Pisa-Studien.

© picture alliance / dpa

Es geht um Kreativität und Erfindungsreichtum anstelle von Konformität, um Lernerzentrierung anstelle von Lehrplanzentrierung, um erarbeitetes Wissen anstelle von vermitteltem Wissen. Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung durch verschiedene Schulformen zu rationieren. Was erfolgreiche Bildungssysteme heute aber auszeichnet, sind motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, mit denen Lernstrategien individuell entwickelt und begleitet werden können.

Die internationalen Expertinnen und Experten werden auch Berliner Schulen besuchen. Was lässt sich von deutschen Lehrern lernen?

Deutschlands große Stärke bleibt das System der beruflichen Ausbildung, das vielen jungen Menschen einen hervorragenden Start ins Berufsleben ermöglicht. Deshalb ist im Ausland das Interesse an deutschen Berufsschulen besonders groß. Es gelingt diesen Schulen besonders gut, die Welt der Bildung mit der Arbeitswelt zu integrieren.

Und welche Schwächen können die ausländischen Lehrkräfte bei uns besichtigen?

In Deutschland können wir von den leistungsstärksten Bildungssystemen lernen, wie sie das Potenzial aller Schüler mobilisieren und erkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben, aber unterschiedlich lernen, und darauf mit viel stärker individualisierenden Unterrichtskonzepten eingehen.

Aus der internationalen Lehrerstudie „Talis“ der OECD von 2014 geht hervor, dass nicht einmal die Hälfte der Lehrer in den untersuchten Staaten – Deutschland war nicht dabei – den Unterricht der Kollegen besucht oder im Team unterrichtet. Sollten Schulleitungen Lehrer dazu verpflichten?

Wichtig ist, dass wir in Deutschland ein Lehrerbild entwickeln, das nicht auf den Unterricht im Klassenzimmer reduziert wird. Singapur investiert in jeden Lehrer etwa hundert Stunden im Jahr für die berufliche Weiterentwicklung. Lehrer in Japan bereiten ihren Unterricht gemeinsam vor und nach und besuchen den Unterricht ihrer Kollegen regelmäßig. In Schanghai gibt es eine digitale Plattform, über die Lehrer ihre Unterrichtspläne hochladen können. Je mehr andere Lehrer diese Pläne nutzen und weiterentwickeln, umso mehr gewinnen die Lehrer gestaltend an Einfluss. Am Ende des Schuljahres fragt sie ihr Schulleiter nicht nur nach ihren eigenen Unterrichtserfahrungen, sondern auch danach, welchen Beitrag sie zur Entwicklung ihrer Kollegen und des Bildungssystems insgesamt geleistet haben. Es geht also um die fachwissenschaftliche Weiterbildung der Lehrkräfte, um Strukturen, die eine professionelle Zusammenarbeit der Lehrkräfte befördern, sowie um die Etablierung einer regelmäßigen Feedbackkultur, die Lehrkräfte in ihrer pädagogischen, professionellen und persönlichen Entwicklung unterstützt. In all diesen Bereichen hat Deutschland viel Nachholbedarf.

Müssen Lehrer Schüler mehr zu überzeugten Demokraten erziehen?

Droht das Niveau der Lehrkräfte in Deutschland künftig nicht eher zu sinken? Mit dem Zuzug hunderttausender Flüchtlinge im Kita- und Schulalter verschärft sich der ohnehin existierende Lehrermangel. Der Staat ist nicht in der Position, sich „die besten Lehrer“ aussuchen zu können.

Keineswegs. Es gibt im internationalen Vergleich keinerlei Zusammenhang zwischen dem Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und der Leistung des Schulsystems insgesamt. Insbesondere bei den Spitzenleistungen sind Schüler mit und ohne Migrationshintergrund oft gleich stark vertreten. In der Schweiz schneiden Schüler aus ähnlichen Herkunftsländern und mit ähnlichem sozialen Hintergrund im Pisa-Vergleich deutlich besser ab als in Deutschland. Sprachliche Integration ist das A und O. Dabei lernen Schüler neue Sprachen schneller, wenn sie im Klassenverband integriert sind, als wenn sie an gesonderten Integrationsklassen teilnehmen. Insbesondere in Deutschland landen viele talentierte Schüler mit Migrationshintergrund auf den Hauptschulen, wo sie nicht ausreichend gefördert werden. Und schließlich mangelt es der Mehrzahl der Lehrer an pädagogischem Wissen, um Lernen von Kindern mit Sprachschwierigkeiten zu fördern und auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Migrationshintergrund einzugehen.

Der Lehrermangel behindert Reformen doch aber. Wie könnte man in Deutschland mehr Abiturienten für das Lehramtsstudium erwärmen?

Viele hoch qualifizierte und motivierte Menschen brauchen vor allem ein Arbeitsumfeld, das Perspektiven für Entwicklung und Kreativität bietet und sich durch bessere Karriereaussichten, eine Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern und mehr Verantwortung für Lernergebnisse auszeichnet. Ein Arbeitsumfeld, dessen Attraktivität nicht auf dem Beamtenstatus, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung beruht. Und das Differenzierung im Aufgabenbereich, Verantwortung für Lernergebnisse und gute Unterstützungssysteme anbietet, so dass Lehrer nicht als Einzelkämpfer dastehen.

Viele Lehrkräfte machen die Pisa-Studie mit deren Fokussierung auf vermeintliche Kernfächer dafür verantwortlich, dass andere Fächer in der Stundentafel inzwischen geschwächt wurden. Ist das ein Opfer, das nötig war?

Ich glaube, es ist heute wichtig, dass Schüler eine breite Grundlage bekommen, bei der naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche und soziale Kompetenzen eine gleichberechtigte Rolle spielen. Allerdings lässt das Fehlen mathematischer Kompetenzen nicht unbedingt auf das Vorhandensein sozialer Kompetenzen schließen.

Umgekehrt korrelieren mathematische Kompetenzen aber auch nicht zwingend mit sozialen Kompetenzen. In Deutschland ist Sachsen Spitzenreiter in Mathe und den Naturwissenschaften. Gleichzeitig macht das Land Schlagzeilen, weil Ausländerhass dort in weiten Teilen der Gesellschaft salonfähig ist. Wird es auf dem Kongress auch darum gehen, was Lehrkräfte können müssen, um ihre Schüler zu überzeugten Demokraten zu erziehen?

Ich glaube nicht, dass wir die Schüler für das Fehlverhalten ihrer Eltern verantwortlich machen können. Sachsen zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es den Lehrern und Schulen besonders gut gelingt, Schüler aus benachteiligten sozialen Schichten zu fördern. Dennoch halte ich es für äußerst wichtig, dass wir in einer vielfältiger werdenden Welt mehr Gewicht darauf legen, dass Schüler lernen, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sich für eine demokratische Gesellschaft engagieren und lernen, mit Menschen anderer Kulturen zu leben und zu arbeiten. Vielfalt ist nicht das Problem, sondern das Potenzial der Wissensgesellschaft. Deswegen wird „Globale Kompetenz“ auch zu einem neuen Schwerpunkt der nächsten Pisa-Studie. Leider hat sich Deutschland bis heute noch nicht zu einer Teilnahme an diesem neuen Aspekt der Pisa-Studie durchringen können.

- Die Fragen stellte Anja Kühne.

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