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In der Kita sollen kommunikative und soziale Fähigkeiten trainiert werden. Nach der Grundschule darf die Leseförderung nicht aufhören, fordern die EU-Experten.

© Thilo Rückeis

Leseförderung: Jedes Kind kann lesen und schreiben lernen

Europaweit gibt es Millionen funktionaler Analphabeten im Jugend- und Erwachsenenalter. Eine Expertenkommission der EU macht jetzt Vorschläge, wie das Lesen und Schreiben von der Kita an sinnvoll gefördert werden kann.

In der Europäischen Union fehlt es jedem fünften Jugendlichen im Alter von 15 Jahren an grundlegenden Lese- und Schreibfertigkeiten. Unter den Erwachsenen sind es 75 Millionen. Jetzt hat eine Gruppe von Sachverständigen im Auftrag der EU-Kommission Strategien zur Alphabetisierung erarbeitet, die sie am Donnerstag in Nikosia (Zypern) vorstellte. Um das Ziel der EU-Bildungsminister zu erreichen, den Anteil der leseschwachen Jugendlichen bis 2020 auf 15 Prozent zu senken, müssten die Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen erheblich verstärken, erklärten die Experten.

„Lesen und Schreiben sind in unserer digitalisierten Welt wichtiger und relevanter denn je“, sagte die EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou in Nikosia. „Aber unsere Lese- und Schreibkompetenz hält nicht Schritt mit dieser Entwicklung.“

Die zehnköpfige Expertengruppe aus verschiedenen Mitgliedsländern, darunter die Berliner Bildungsforscherin Renate Valtin (Humboldt-Universität), hat Empfehlungen für alle Altersgruppen vorgelegt. Möglichst alle Kinder im Vorschulalter sollten eine kostenlose Bildungseinrichtung besuchen. In der frühkindlichen Erziehung sollte „spielerisches Lernen“ im Vordergrund stehen, besonders müsse die sprachliche, psychomotorische und soziale Entwicklung gefördert werden. Dabei sei es eine Aufgabe der Erzieherinnen, den Kindern „Vorstufen der Lese- und Schreibkompetenz“ zu vermitteln.

Doch die Programme der Kommunen müssten von vornherein auch auf die Eltern zielen, heißt es. Und das bedeute mehr, als Müttern und Vätern mit Defiziten beim Lesen und Schreiben Kurse in Kitas und Schulen anzubieten. Die Familien sollen ermuntert werden, für ihre Kinder „eine Kultur des Lesevergnügens“ zu schaffen. Dabei könnten auch Bibliotheken in ungewöhnlicher Umgebung, wie Einkaufszentren oder Bahnhöfen helfen.

Für die Grund- und Sekundarschulen empfehlen die Experten neuartige „Leselehrkräfte“, die mit den Klassen arbeiten, aber auch andere Lehrer unterstützen – auch bei der richtigen Reaktion auf Lese- und Schreibschwäche. „Legasthenie“ sei die falsche Diagnose, heißt es, denn sie gelte vielfach als „nicht heilbar“. „Grundsätzlich kann jedes Kind lesen und schreiben lernen“, betonen die Experten. Gelingt dies nicht in der vorgegebenen Geschwindigkeit und Methode, sollte die Schule andere Wege finden. Leseförderung dürfe keinesfalls auf die Grundschule beschränkt bleiben.

Generell brauchten Schüler ausreichend Zeit für den Leseunterricht und freie Leseaktivitäten. Sie sollten ihr Lesematerial selbst auswählen dürfen. Insbesondere müssten Jungen verstärkt zum Lesen gebracht werden. In der EU ist die Quote der leseschwachen Jungen mit 26,6 Prozent doppelt so hoch wie bei den Mädchen. Jugendliche, vor allem Jungen, bräuchten mehr Vielfalt beim Lesestoff, erklären die Experten. Neben der literarischen Pflichtlektüre sollten auch Comics und E-Books einbezogen werden. Attraktiver könnte das Lesen auch durch verstärkten Einsatz von Computern und digitalen Lesegeräten im Klassenzimmern und zu Hause werden.

Für Deutschland enthalte der Bericht wichtige Lektionen, erklärte Renate Valtin gegenüber dem Tagesspiegel. Zwar würden einige Projekte wie die Berliner Stadtteilmütter und die Lesepaten lobend erwähnt. Doch es fehle an einer bundesweit einheitlichen Strategie gegen den funktionalen Analphabetismus. So sollten Sprachstandserhebungen im Kitaalter verpflichtend sein, ebenso wie die anschließende Förderung der Kleinkinder. Isolierten Trainingsprogrammen, wie sie in allen Ländern verbreitet seien, erteilen Valtin und Kollegen eine klare Absage. Sie fordern ein durchgehendes, alle Altersstufen umfassendes Curriculum.

Weltweit können 775 Millionen Jugendliche und Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Die Mehrheit von ihnen lebt in Süd- und Westasien sowie in Schwarzafrika. Diese Zahlen gab die Deutsche Unesco-Kommission am Donnerstag anlässlich des Welttages der Alphabetisierung an diesem Sonnabend bekannt. Fast zwei Drittel der Analphabeten seien Mädchen und Frauen. Amory Burchard

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