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Das arktische Meereis gilt als empfindliche Stelle des Klimasystems der Erde. Derzeit erweist es sich aber trotz fortschreitender Erwärmung als unerwartet stabil.

© Alfred-Wegener-Institut/Mario Hoppmann

Liegt die Klimaforschung falsch?: Schwund des Meereises in der Arktis legt Pause ein

Ist es nur etwas Aufschub, bis das letzte Eis auf dem Nordpolarmeer geschmolzen ist, oder ist der Klimawandel doch nicht so dramatisch? Fachleute erklären, warum sich der Eisschwund verlangsamt hat.

Stand:

Die Arktis ist ein Hotspot des Klimawandels, dort ist die globale Erwärmung am stärksten. Eis auf dem Nordpolarmeer, das im Jahresverlauf gefriert und wieder schmilzt, ist ein Kippelement im Klimasystem. Das Nordpolarmeer droht bei fortschreitender Erwärmung in einen neuen stabilen Zustand überzugehen: ohne Eis.

Aber danach sieht es derzeit nicht aus. Ein Forschungsteam berichtete Anfang August in der Fachzeitschrift „Geophysical Research Letters“, dass sich der Rückgang des arktischen Meereises in den letzten zwei Jahrzehnten „erheblich verlangsamt“ habe. Heißt das, der Klimawandel in der Arktis lässt nach? Schwindet gar nicht so viel Eis, wie die Modelle der Klimaforschung berechnet haben?

Stabilere Ausdehnung

Die Beobachtungen so zu interpretieren, wäre klassisches „cherry picking“ (sinngemäß: „Rosinenpickerei“): zur Untermauerung einer These nur Daten heranzuziehen, die zu dieser These passen. Und andere unter den Tisch fallen zu lassen. Die aktuelle Studie böte sich dafür an.

Es ist anzunehmen, dass der Rückgang des Eises nach dieser Pause umso schneller vorangeht.

Christian Haas, Polar- und Eisforscher und Professor an der Universität Bremen

Sie ergab, dass die Meereisfläche im September – dem jährlichen Tiefpunkt der Ausdehnung – seit dem Jahr 2005 nicht bedeutend zurückgegangen ist. „Diese Pause ist in allen Beobachtungsdatensätzen, Messwerten und Jahreszeiten robust“, schrieb das Team um Mark England von der Universität Exeter, jetzt an der University of California in Irvine tätig.

Die Forschenden haben Satellitenmessungen der Meereisbedeckung ausgewertet, die vom Jahr 1979 an erhoben wurden. Über die Zeit bis 2024 nahm die Eisbedeckung um etwa 800.000 Quadratkilometer pro Jahrzehnt ab – das entspricht etwa der Fläche der Türkei.

Im Zeitraum von 2005 bis 2024 ging sie jedoch nur um etwa 300.000 Quadratkilometer pro Jahrzehnt zurück. Der Eisverlust hat sich damit um mehr als die Hälfte verlangsamt. Ein ähnliches Muster wurde bei der Messung des geschwundenen Eisvolumens beobachtet.

Pause könnte andauern

Um beurteilen zu können, ob solche Verlangsamungen selten sind, wertete das Team Simulationen von Klimamodellen aus. Fast alle Modelle, die in großen Studien miteinander verglichen worden sind, berechnen vergleichbare Pausen. Auch in Phasen ungebrochen zunehmender Emissionen von Treibhausgasen sind sie nicht selten. Doch der Langzeittrend ist eindeutig.

„Die sommerlichen Meereisbedingungen in der Arktis sind mindestens 33 Prozent geringer als zu Beginn der Satellitenaufzeichnungen vor fast 50 Jahren“, sagt England. Angesichts dessen und der Tatsache des vom Menschen verursachten Klimawandels möge es überraschen, dass sich der Eisrückgang vorübergehend verlangsamt habe. „Dies steht jedoch völlig im Einklang mit Klimamodellsimulationen und ist wahrscheinlich auf natürliche Klimaschwankungen zurückzuführen“, so der Forscher.

10.000
Kubikkilometer Eis sind nach Schätzungen seit 1979 verschwunden. Das entspricht einem Eiswürfel mit über 20 Kilometer Kantenlänge.

Sie könnten den vom Menschen verursachten langfristigen Trend zu weniger Eis überlagern. Das sei aber nur eine „vorübergehende Atempause“. „Schon bald wird die Geschwindigkeit des Meereisrückgangs wieder das langfristige Tempo des Meereisverlusts erreichen“, erwartet England.

Die Illustration zeigt die minimale Eisbedeckung im September 2024. Die gelbe Linie ist die Grenze der durchschnittlichen Ausdehnung in der 30-Jahres-Periode von 1981 bis 2010.

© NASA’s Scientific Visualization Studio

Sein Team schätzt, dass sich der Eisschwund mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent erst in fünf Jahren wieder beschleunigen wird. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent halte die Pause noch zehn Jahre an.

Gefährliche Rückkopplung

„Klimawandel bedeutet ja Veränderungen in Zeiträumen von 30 Jahren und mehr“, sagte Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut Bremerhaven dem Tagesspiegel. Die festgestellte Pause bedeute nicht, dass der menschengemachte Klimawandel gestoppt ist. „Es ist anzunehmen, dass der Rückgang des Eises nach dieser Pause umso schneller vorangeht“, erwartet der Polarforscher.

Auch Haas vermutet, dass er auf natürliche Klimavariabilität zurückzuführen ist. „Es ist anzunehmen, dass die Wärme im Ozean zu solchen Schmelzverzögerungen führen kann“, sagt Haas. Er sieht eine positive Auswirkung der Pause: „Solange Eis da ist, wirkt sich dies auch kaum auf die Atmosphäre aus.“

Denn der Rückgang des Eises kann die globale Erwärmung über Rückkopplungsschleifen erheblich verstärken. Eis reflektiert mehr Sonnenlicht als der offene Ozean. Fehlt es, wird die Erwärmung lokal verstärkt, mehr Eis schmilzt und so weiter. Außerdem ist die Arktis eine Region, von der zirkulierende Meeresströmungen ausgehen, die das Klima auch in entfernten Weltregionen beeinflussen, vor allem aber in Europa.

Englands Team erwartet, dass auf die derzeitige Pause eine Zeit folgen wird, in der das Eis schneller als im langjährigen Durchschnitt schwinden wird.

Für eine echte Trendwende müssen der Ausstoß von Treibhausgasen aus der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas auf null gebracht werden und die Entwaldung gestoppt werden. Damit würden die Erwärmung und ihre negativen Auswirkungen langfristig ausgebremst – ohne, dass man dazu Rosinen picken müsste.

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