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M. Rainer Lepsius.

© Alexander Lucas/Wikipedia

M. Rainer Lepsius: Der Soziologe als Aufklärer

M. Rainer Lepsius hat die deutsche Soziologie geprägt, sein Begriff der „sozialmoralischen Milieus“ Furore gemacht. Eine Würdigung zum 85. Geburtstag.

In den letzten Jahrzehnten fanden soziologische Veranstaltungen oft einen späten Höhepunkt, besonders wenn sie etwas dröge zu werden begannen. Dann ergriff M. Rainer Lepsius das Wort, um, eine Haarsträhne über der Stirn, in lockerer Suada vorzuführen, wie eigentlich mit dem diskutierten Thema umzugehen sei, um historische Tangenten durch die Wissenschaftsgeschichte zu ziehen und der Debatte erhellende Lichter aufzusetzen. Und ein um das andere Mal erwies sich der Heidelberger Soziologe als eine der erfreulichsten Gestalten des Fachs, inspirierend, immer anregend, nie mühsam – und mit alledem das glatte Gegenprogramm zu den jargonschweren Ausprägungen, die das Fach in Verruf gebracht haben.

Dabei ist Lepsius keineswegs ein Feuilletonist der Soziologie, sondern durchaus Repräsentant ihrer professionellen Entwicklung. Er ist diplomierter Volkswirt, hat als Industriesoziologe gearbeitet und ein paar Jahre auch den Vorsitz der Gesellschaft für Soziologie innegehabt. Doch seinen Ruf verdankt er seinen Analysen zu der unendlichen Debatte, mit der sich die Gesellschaft der Bundesrepublik seit den fünfziger und sechziger Jahren über sich selbst und ihre Herkunft aufzuklären versuchte – „Soziologie als angewandte Aufklärung“, Titel eines seiner Aufsätze, könnte dafür gut als Motto dienen. Nicht zuletzt hat er die klassischen Analysegrößen von Soziologie und Historie durch kulturelle Begrifflichkeiten bereichert. Sein Begriff der „sozialmoralischen Milieus“ hat in Sozialwissenschaften und Geschichte Furore gemacht, weil er den Strukturen einen Halt in gelebten Erfahrungswelten gibt.

Doch seit Jahren steht Lepsius’ Arbeit im Schatten Max Webers, und zwar in einem handfesten Sinn: Er ist einer der Herausgeber der auf über vierzig Bände angelegten Max-Weber-Gesamtausgabe. Da mag man sich manchmal fragen, was einen Mann mit so vielen Interessen wie Lepsius zu der Kärrnerarbeit an diesem wissenschaftlichen Großunternehmen veranlasst hat. Man kann annehmen, dass die Beschäftigung mit diesem Übervater des Fachs, der eine magistrale Gestalt in der intellektuellen und der politischen Geschichte der Deutschen ist, für ihn die Erfüllung eines Soziologenlebens darstellt.

Das um so mehr, als Lepsius’ Hintergrund das deutsche Bildungsbürgertum ist. Er entstammt einer bedeutenden Familie von Beamten und Wissenschaftlern. Dazu ein großes Netzwerk historisch namhafter Männer und Frauen, das Lepsius als ein Paradigma des Zusammenhangs von Bildungsbürgertum und Wissenschaft analysiert hat. Diese Herkunft hat ihn vor einigen Jahren in spezifisch berlinische Auseinandersetzungen gezogen. Denn zu dem fruchtbaren Lepsiusschen Biotop gehört auch die Familie Parthey, nach Friedrich Nicolai die Besitzer des Nicolaihauses. Als ihr Nachfahre hat Lepsius engagiert teilgenommen an dem Streit über die Nutzung dieses Hauses, das – für ihn ein „Bezugspunkt für das gesamte Panorama der Kultur Berlins zwischen Friedrich II., bis Wilhelm I. aus bürgerlicher Perspektive“ – inzwischen durch die Stiftung Denkmalschutz gerettet ist. An diesem Mittwoch wird M. Rainer Lepsius 85 Jahre alt.

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