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Vergangener Ruhm. Paolo Macchiarini (links) demonstriert kurz vor einer Operation eine Testversion der Luftröhre.

© Jim Carlson, AFP

Macchiarini-Skandal zieht Kreise: Zwei Mitglieder der Nobelpreisversammlung entlassen

Paolo Macchiarini hat als erster Chirurg Patienten künstliche Luftröhren eingesetzt - mit verheerenden Folgen. Am Karolinska-Institut hatten zuvor alle Kontrollmechanismen versagt. Nun berührt der Skandal sogar den Nobelpreis.

Knapp einen Monat vor der Bekanntgabe des Medizinnobelpreises hat die Nobelpreisversammlung am Karolinska–Institut in Stockholm zwei ihrer 50 Mitglieder entlassen. Das berichtet die schwedische Nachrichtenagentur TT. Anders Hamsten und Harriet Wallberg-Henriksson verantworteten als Vizekanzler des Karolinska-Instituts die Berufung des Skandal-Chirurgen Paolo Macchiarini und schützten ihn später vor Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Ihr Handeln sei ein „Lehrbuchbeispiel für schlechte Führung“, sagte Sten Hecker, ehemals Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts in Schweden und Vorsitzender einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Vorgänge um Macchiarini rekonstruiert hat.

Aufgrund der Nachforschungen war bereits im Februar der Generalsekretär des Nobelkomitees, Urban Lendahl, zurückgetreten. Er fürchtete, dass sein Name in den Ermittlungen fallen könnte und wollte Schaden von der höchsten Auszeichnung der Medizin abwenden. Deshalb nahmen auch Hamsten und zwei weitere Professoren nicht an den Beratungen zur Preisvergabe teil. „Der Nobelpreis und das Karolinska sind eng verbunden“, sagte Bo Risberg, emeritierter Professor der Universität Göteborg, dem Fachblatt „Science“. Der Skandal sei aber größer als jeder andere in Schweden. „Das hat Auswirkungen auf den Preis.“

Das Vertrauen in das Karolinska-Institut und das dazugehörige Universitätsklinikum sind bereits erschüttert. In der Kategorie „guter Ruf“ bekam es bei einer Umfrage des schwedischen Meinungsforschungsinstituts Sifo gerade 59 von 100 Punkten. Unter den schwedischen Universitäten belegte es den zwölften Platz.

"Ich habe noch nie so schlechte Referenzen gesehen"

Der Anspruch, exzellente Forschung voranzutreiben, sei dem Karolinska zum Verhängnis geworden, schreibt die Untersuchungskommission. Es sei verständlich, warum die Berufung als visionär galt. Schließlich wurde Macchiarini als „Star-Chirurg“ gefeiert; in seinen Plänen kamen Schlagwörter wie translationale Forschung und regenerative Medizin vor.

Er wollte passgenaue, künstliche Luftröhren herstellen und besiedelte dafür poröses Plastik mit Stammzellen aus dem Knochenmark. Sie sollten auf dem Material anwachsen und nach der Transplantation die schützende Schleimzellschicht der Atemwege wiederherstellen. Patienten, denen man sonst kaum helfen konnte, sollten normal atmen können. Diese Hoffnung passte zur Strategie des Karolinska, ein Zentrum für Operationen der Luftwege einzurichten. So übersah man bei der Berufung 2010 alle Warnzeichen.

Die gab es reichlich, schreibt die Kommission. Frühere Arbeitgeber hätten sich gemeldet und auf Unstimmigkeiten im Lebenslauf, auf fragwürdige Daten in Macchiarinis Publikationen und auf seine Unfähigkeit zur Kooperation hingewiesen. Macchiarinis Entscheidungen, welcher Patient welche Operation benötige, seien nicht immer adäquat, hieß es. „Ich habe noch nie so schlechte Referenzen gesehen“, sagte Hecker. „Es ist erstaunlich, dass die Vizekanzler dem nicht nachgegangen sind.“

Stattdessen nahm das Unheil seinen Lauf. 2011 und 2012 setzte Macchiarini einem 36-jährigen und einem 30-jährigen Krebspatienten sowie einer weiteren 22-jährigen Patientin die künstlichen Luftröhren ein. Es waren die ersten Operationen dieser Art, sie wurden als Erfolge in Fachzeitschriften dokumentiert.

Keine Behörde, keine Ethikkommission hatte die Vorgänge überwacht

Dann starben die beiden Männer. Eine Autopsie zeigte, dass sich die künstliche Luftröhre gelöst und eine chronische Infektion ausgelöst hatte. Die junge Frau litt von Anfang an unter schweren Komplikationen, bis die künstliche Luftröhre in sich zusammenfiel. 2013 setzte Macchiarini ihr abermals ein Implantat ein. Es musste 2016 mit einem Spenderorgan ersetzt werden. Sie liegt bis heute in einer Klinik.

Alle drei Patienten waren nicht in unmittelbarer Lebensgefahr, als sie sich für die Operation entschieden, schreibt die Kommission. Noch gravierender: Die Einverständniserklärungen, die sie unterzeichneten, seien unverständlich gewesen. Die Patienten hätten weder eine Gelegenheit gehabt, eine zweite Meinung einzuholen, noch habe bei den Konferenzen im Kollegium irgendjemand hinterfragt, welche Risiken die Patienten auf sich nehmen und wie gut die Methode in Tierversuchen erforscht sei.

Macchiarini musste nicht einmal belegen, dass es dem ersten Patienten langfristig gut ging. Er konnte weiter operieren, wechselte immer wieder das Material und veränderte den Durchmesser der Plastikröhren. Die Patienten bekamen von ihm zudem nach der Operation wachstumsfördernde Mittel. Keine Behörde hatte das genehmigt, keine Ethikkommission die Vorgänge überwacht – obwohl es sich um klinische Forschung und nicht, wie behauptet, um normale Patientenversorgung handelte.

Im Karolinska gab es eine "Kultur des Schweigens"

Statt auf Patientensicherheit zu pochen, hätten sich die Kollegen zunächst beeilt, kritiklos auf den Zug aufzuspringen. Gleichzeitig habe die Führung bestehende Regeln nonchalant umgangen. „In einer Umgebung, die von Wettbewerb geprägt ist, gibt es eine Kultur des Schweigens“, heißt es in dem Bericht. Selbst als die Klinik ab 2013 keine weiteren Operationen zuließ und dem Chirurgen kündigte, blieb Macchiarini am Karolinska- Institut angestellt. Dort wurde sein Vertrag als Gastprofessor 2013 und 2015 verlängert. Wallberg-Henriksson sprach ihn noch im Sommer 2015 von wissenschaftlichem Fehlverhalten frei. Dabei hatte eine interne Untersuchung ergeben, dass der Chirurg seine Ergebnisse in Studien allzu positiv dargestellt hatte. Macchiarini operierte derweil im Ausland fünf weitere Patienten. Vier starben.

Die Ministerin für höhere Bildung und Forschung hat Wallberg-Henriksson nun auch in ihrer Funktion als Kanzlerin entlassen, die alle öffentlichen Universitäten in Schweden vertritt. Die verbleibende Führung des Karolinska-Instituts, die während der Macchiarini-Affäre aktiv war, werde noch ausgetauscht. Gegen Macchiarini selbst laufen Ermittlungen wegen schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung. Er fühlt sich zu Unrecht verfolgt.

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