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Starre Hülle. Das Design von Triebwerken ist ein Kompromiss, der viel Leistung bei geringem Verbrauch und Lärm bringen soll. Mit neuen Materialien ließe sich die Form der Hülle gezielt verändern, damit die Flieger in Bodennähe leiser und in großer Höhe schneller sind.

© REUTERS

Materialforschung: Turbinen nach Maß

Spezielle Materialien können ihre Gestalt beliebig oft wechseln. Das ermöglicht zum Beispiel bessere Flugzeuge und Autos.

Bevor die sommerliche Mittagshitze eine Chance hat, verdunkelt die Jalousie wie von Geisterhand das Zimmer. Ohne Strom und Knopfdruck. Am Abend, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet und die Luft abkühlt, öffnet sich der Rollladen wieder. Materialien mit Formgedächtnis machen es möglich. Sie können zwischen zwei Gestalten hin- und herschalten, beliebig oft. Dafür genügt ein Temperaturwechsel.

Die neuen Werkstoffe dürften nicht nur Haushalte revolutionieren. Mit ihnen lassen sich auch Fahr- und Flugzeuge bauen, die ihre Konturen von einer Sekunde auf die andere ändern. Der italienische Autobauer Alfa Romeo hat einen futuristischen Sportwagen entworfen, der sein Profil so dem Wind anpasst, dass der Widerstand minimal wird. Noch gibt es den Wagen nur in Modellbaugröße. Aber schon jetzt ist absehbar, dass Formgedächtnismaterialien Produkten künftig eine fluide Gestalt verleihen. Das verändert das Produktdesign grundlegend – Funktion und Form verschmelzen.

Ein Handicap störte die Industrie bislang: Die Verwandlungskünstler konnten nur von der ersten Gestalt in die zweite wechseln. Dann mussten sie mechanisch wieder in die Ursprungsform gebracht werden. Erst kürzlich ist es Wissenschaftlern gelungen, Materialien zu entwickeln, die zwischen zwei Formen hin- und herschalten können, ohne dass es einer separaten Kraft bedarf. Sobald diese Zwei-Wege-Materialien marktreif sind, stehe einer breiten Verwendung nichts mehr im Weg, meint einer der Erfinder, Andreas Lendlein vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht für Material- und Küstenforschung in Teltow.

Die neuen Werkstoffe machen Flugzeuge bei Start und Landung leiser

Welche Anwendungen dann möglich sind, zeigt der Entwurf der nächsten Generation der „Dreamliner“-Flieger von Boeing. Im Triebwerk sind Bänder aus dem Formgedächtnismaterial Nickeltitan in den Kunststoff eingebettet. Sie sorgen dafür, dass das Triebwerk am Boden schmaler geformt ist und dadurch leiser läuft. Ab 8000 Meter Flughöhe ist die Umgebungsluft indes so kalt, dass sich das Triebwerk seines zweiten Zustands entsinnt: Der Auslassquerschnitt weitet sich. Das Flugzeug wird etwas lauter, verbraucht dafür aber weniger Sprit. Derart leise Maschinen könnten Flughäfen selbst bis tief in die Nacht hinein und schon vor dem Morgengrauen anfliegen, hofft Walt Gillette, Vizepräsident von Boeing Commercial Airplanes. Bisher verhängen die meisten Städte ein Nachtflugverbot für Passagiermaschinen, da der Lärm den Schlaf stört.

Marc Behl, Chemiker am Helmholtz-Zentrum in Geesthacht, und sein Chef Andreas Lendlein stellten im Sommer einen Kunststoff vor, der erstmals zwischen zwei Formen hin- und herschaltet. Dazu nutzen die Chemiker handelsübliches Polyethylenvinylacetat, mit dem Bücher geleimt und Duschvorhänge hergestellt werden. Ihre Variante hat jedoch zwei unterschiedliche Molekülstrukturen im Inneren: Die Polyethylen-Einheiten liegen im Material als kompakte Knäuel vor, wie Steine in einem Mauerwerk. Beim Erwärmen bleiben sie fest, rücken aber als Ganzes auseinander. Sie verleihen dem Werkstoff Stabilität und erlauben zugleich, dass dieser sich biegt. Der Vinylacetatanteil im Kunststoff besteht dagegen aus längs gestreckten Molekülketten. Sie erweichen beim Erwärmen und dehnen sich in Längsrichtung aus. So gewährleisten sie die Verformung.

Während sich die Form von Gedächtnismaterialien bisher oft abrupt bei einer definierten Temperatur ändert, bildet sie sich bei dem neuen Kunststoff zwischen 25 und 70 Grad Celsius neu. Ein gefaltetes Band etwa öffnet sich allmählich, je wärmer es wird. Oder: Ein schmetterlingsartiges Gebilde hebt mit dem Heißwerden langsam seine Flügel und lässt sie anschließend wieder sinken. „Viele hundert Mal kann dieser Vorgang wiederholt werden“, sagt Behl. Ohne zu ermüden.

"Damit haben wir eine Art schaltbaren Gecko"

Die Chemiker haben bereits Ideen für potenzielle Anwendungen. Dazu gehört etwa jene Jalousie, die sich ohne Strom in der Wärme schließt oder ein Lüftungsgitter, das mehr Frischluft hindurchlässt, sobald es zu heiß wird. Behl, ganz Heimwerker, würde ein Dübel gefallen, den man bequem aus dem Bohrloch ziehen kann, weil er schrumpft, sobald man ihn erwärmt. „Wir haben sehr viele Industrieanfragen aus verschiedenen Branchen“, berichtet er. In drei bis fünf Jahren rechnet er mit ersten Produkten.

Auch Nickel-Titan-Legierungen können den Zwei-Wege-Effekt erlernen. Materialwissenschaftlerin Mareike Frensemeier vom privaten Institut für Mikrotechnik in Mainz erwärmt die schaltbaren Materialien dazu wiederholt, bringt sie in die gewünschte Form, kühlt sie dann wieder ab und presst sie in die zweite Gestalt. Diesen Vorgang bezeichnen Werkstoffwissenschaftler als „Training“. Der Werkstoff merkt sich dabei beide Zustände. Bei Temperaturänderung schaltet er fortan von alleine zwischen ihnen hin und her.

Frensemeier hat auf diese Weise einen Nickel-Titan-Werkstoff entwickelt, der beim Abkühlen von einer genoppten Mikrostruktur zu einer glatten Oberfläche wechselt. „Damit haben wir eine Art schaltbaren Gecko“, sagt sie. Mit den Noppen haftet das Präparat an einer Oberfläche; in der glatten Variante löst es sich. Kleben oder Greifen auf Knopfdruck – beides wäre mit dem Zwei-Wege-Formgedächtniseffekt möglich. „Ein Werkzeug aus diesem intelligenten Material könnte empfindliche Produkte wie Kontaktlinsen oder optische Linsen im Produktionsprozess greifen, ohne sie zu beschädigen“, sagt sie. Noch ein bis zwei Jahre, dann sei das Werkstofftraining so weit standardisiert, dass die Industrie ihre Produkte damit in Form bringen kann.

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