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© Rückeis

Mathematik im Alltag: Doppelt gemoppelt

Die Zinsformel, oder: Warum es unerlässlich ist, die Exponentialfunktion zu verstehen. So kann man sein Geld rapide vermehren. Doch nicht nur für Anleger, auch für die Natur ist Verdopplung eine Erfolgsstrategie. Bakterien wachsen auf diese Weise.

„Stimmt es, dass Sie 78 sind?“, fragt ein Reporter die britische Schriftstellerin Edith Sitwell nach ihrer Ankunft in Hollywood. „Nein. 82.“ „Aber ich habe vorige Woche gelesen, dass Sie 78 sind.“ „Ja, das war vorige Woche.“ Dichter sind unberechenbar. Sie machen nicht mal vor der Mathematik halt, die oft mit einer gewissen Ehrfurcht betrachtet wird. Allerdings kann man Edith Sitwell verstehen. Ob sie nun 78 oder 82 Jahre alt ist – macht das einen Unterschied? Sie hatte jedenfalls lange gelebt.

Zwischen einem Jahr und zwei liegen Welten, genauso zwischen drei und vier. Aber zwischen 78 und 82? Je größer Zahlen werden, umso mehr verschwimmen Differenzen. Wenn es um den Unterschied zwischen sehr großen Zahlen geht, etwa einer Milliarde und einer Billion, lässt uns das Zahlengefühl völlig im Stich. Unter einer Staatsverschuldung von 1,5 Billionen Euro kann sich der Bundesbürger kaum etwas vorstellen. 1500 Milliarden Euro klingen da schon bedrohlicher. So ausgedrückt, lässt sich die Summe leichter in ein Verhältnis setzen. Sie ist fast 1000 Mal größer als der Schuldenberg von 1,6 Milliarden Euro, den eine einzelne Stadt wie Düsseldorf Ende der 90er Jahre angehäuft hatte. Heute, zehn Jahre später, ist Düsseldorf schuldenfrei – neben Dresden als einzige der 15 größten deutschen Städte, während Berlins Schulden mittlerweile auf 60 Milliarden Euro angewachsen sind.

Das Rechnen in solchen Größenordnungen verlangt uns einiges ab. Wie entstehen solche Beträge? Beginnen wir mit einer kleinen Geldanlage: Zur Geburt einer Tochter werden 10000 Euro festgelegt, über die sie im Alter von 20 Jahren frei verfügen soll. Fünf Prozent Zinsen lassen die Summe schon nach einem Jahr um 500 Euro wachsen. Würde man jedes Jahr 500 Euro addieren, kämen am Ende der Laufzeit 20 000 Euro heraus, das Kapital hätte sich verdoppelt. Da die eingestrichenen Zinsen aber jedes Jahr mitverzinst werden, erhöht sich der Betrag auf knapp 27000 Euro. Ein beachtlicher Zugewinn. Oder was meinen Sie?

Vielleicht sind Sie kein Aktionär. Lediglich sieben Prozent der Bundesbürger besitzen Aktien. Der Rest bevorzugt sichere Sparvarianten und hat daher auch nicht vom rapiden Anstieg des Deutschen Aktienindex um 260 Prozent seit dem Tiefpunkt des Dax im März 2003 profitiert. Ein Banker wie James Simon, Mathematiker seines Zeichens, brachte es mit seinem Hedgefonds-Unternehmen Renaissance Technologies zwischen 1998 und 2006 im Schnitt auf 30 Prozent Rendite pro Jahr.

Das ist außergewöhnlich viel. Aber zehn Prozent Renditeerwartung sind keine Seltenheit. In dem oben genannten Beispiel machen zehn Prozent Zinsen aus 10000 Euro Startkapital satte 67000 statt „nur“ 27000 Euro. Hier zeigt sich die ganze Kraft einer mathematischen Funktion: der Multiplikation.

Bei Zinsen von fünf Prozent, also fünf Hundertsteln, vermehrt sich eine Geldanlage Jahr für Jahr um den Faktor 1 + 0,05 = 1,05. Dieser Zinsfaktor (siehe Kasten) erhöht sich bei zehn Prozent Zinsen auf 1 + 0,10 = 1,1. Beide Zahlen erscheinen klein. Aber wenn man eine Zahl wie 1,1 immer wieder mit sich selbst multipliziert, wächst das Ergebnis exponentiell. Nach acht Multiplikationen 1,1 x 1,1 x ….x 1,1 ist man schon beim Faktor 2 angekommen: Die Geldanlage hat sich binnen acht Jahren verdoppelt. 16 Jahre entsprechen einer Vervierfachung des Kapitals, und nach 20 Multiplikationen ist das 6,7-Fache erreicht: Aus 10000 Euro sind 67 000 geworden.

Zeit ist Geld. Viel Geld. Mit dem Zinseszins verhält es sich ähnlich wie in der Legende vom Schachbrett, auf dessen erstes Feld der König ein Weizenkorn legen soll, aufs nächste zwei Weizenkörner, dann vier, acht und so weiter. Ein bescheidener Wunsch? Mitnichten! Hier gibt es in jedem Schritt eine Verdopplung. Sie führt den König in den Ruin. Auf das letzte der 64 Felder hätte er einen Berg von 9 223 372 036 854 775 808 Weizenkörnern legen müssen – ein Vielfaches der jährlichen globalen Weizenproduktion heutzutage.

In der Natur ist Verdopplung die erfolgreichste Strategie überhaupt. Jedes Bakterium vermehrt sich so: durch Zellteilung. Wenn sich eine Zelle 35 Mal teilt, können daraus 17 Milliarden Zellen entstehen. Nervenzellen zum Beispiel. So hat auch unser Gehirn die grauen Zellen gebildet, dank derer wir die Bakterienvermehrung, das Bevölkerungswachstum oder den Zinseszins begreifen können.

Exponentielles Wachstum hat oft Schattenseiten. So wächst derzeit das Kapital viel schneller als die Löhne, die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich. Während das reale Nettoeinkommen der ärmsten zehn Prozent in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre um mehr als zehn Prozent gesunken ist, ist das der reichsten zehn Prozent um über 30 Prozent gestiegen. Letztere besitzen inzwischen knapp 60 Prozent des gesamten Vermögens. Sie können ihr Geld weiter für sich arbeiten lassen.

Eine sichere Anlage sind Bundesschatzbriefe. Man leiht dem Staat Geld und streicht die Zinsen ein. Anders gesagt: Die Bessersituierten verdienen an der Staatsverschuldung. Und die ist enorm. Denn auch bei der Verschuldung kann das exponentielle Wachstum zum Tragen kommen, wenn man nämlich, statt die Schuld zu tilgen, immer neue Kredite aufnimmt.

Berühmt dafür wurde ein Herr Ponzi in den zwanziger Jahren in den USA. Er finanzierte sein Leben über Kredite, ging zur Bank A, lieh sich dort Geld, und als er es nach Ablauf eines Jahres zurückzahlen musste, nahm er dafür einen Kredit bei Bank B. auf. Im darauffolgenden Jahr lieh ihm Bank A wieder Geld – er hatte seinen ersten Kredit ja pünktlich zurückerstattet. So wechselte er kreditwürdig hin und her, bis die Sache aufflog. Das Ponzi- Spiel endete mit einer Bankrotterklärung. Wie sieht es im Vergleich dazu mit den Staatsschulden aus?

Der Schuldenstand des Bundes hat von 30 Milliarden Euro im Jahr 1970 auf mehr als 900 Milliarden im Jahr 2006 zugenommen. Er hat sich verdreißigfacht! Die Lage der Länder ist kaum besser. Ihre Schulden wuchsen im gleichen Zeitraum von zunächst 30 Milliarden Euro auf fast 600 Milliarden an, macht zusammengenommen: 1,5 Billionen Euro Schulden von Bund und Ländern.

Für größere Investitionen sind Schulden manchmal notwendig. Wer sich ein Haus kauft, kann die Belastungen so auf mehrere Jahre verteilen. Auch Bund und Länder dürfen – laut Grundgesetz – für Zukunftsinvestitionen Schulden machen. So stieg unter anderem wegen der Ausgaben für die Wiedervereinigung die Schuldenstandsquote zwischen 1990 und 1996 von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf fast 60 Prozent. Inzwischen hat sie die von der EU vorgegebene Obergrenze von 60 Prozent deutlich überschritten.

Wer Schulden macht, muss mit großen Zahlen rechnen. Der Unterschied zwischen 78 und 82 mag für die Dichterin Edith Sitwell unbedeutend sein, bei der Schuldenstandsquote ist eine Differenz zwischen 60 und 65 Prozent für alle Bürger spürbar. Die hohen Schulden schränken den politischen Handlungsspielraum stark ein. Mit 43 Milliarden Euro schlägt die Bundesschuld im Haushaltsentwurf 2008 zu Buche. Der Staat zahlt in diesem Jahr mehr Schuldzinsen, als er für die Bereiche Verkehr und Bau, Familie und Jugend, Bildung und Forschung zusammengenommen ausgeben kann.

Zahlen sind abstrakte Größen. Wenn’s ums Geld geht, knüpft sich daran die Frage nach Souveränität. Länder und Kommunen verkaufen angesichts der Schulden ihr Vermögen, trennen sich von Stadtwerken (Düsseldorf), veräußern Wohnungsbestände (Dresden) oder privatisieren ihre Wasserwerke. Damit geben sie einen Teil ihrer Einflussmöglichkeiten auf die soziale Gerechtigkeit und jene Dienstleistungen preis, die die Bürger täglich in Anspruch nehmen, womöglich ohne das Problem des jährlichen Haushaltsdefizits nachhaltig gelöst zu haben. Unterdessen häuft die Bundesregierung trotz guter Konjunktur weitere Schulden auf und verspricht einen ausgeglichenen Haushalt für ... 2011. Man vertraut darauf, der globale Finanzmarkt werde irgendwie immer neue Kredite bereitstellen. Der aber fordert sein Geld zurück. Plus Zins. Und Zinseszins. Wie dieses Ponzi-Spiel ausgehen wird, weiß niemand.

Teil 2 der Serie „Mathematik im Alltag“ erscheint am Dienstag, den 22. Januar.

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