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"Französische Spielerei". Im 19. Jahrhundert lehnten viele Ärzte das Stethoskop zunächst ab. Sie hörten Patienten ab, indem sie ihnen das Ohr auf die Brust legten.

© picture-alliance/dpa

Medizin: Abschied vom Abhören

Das Stethoskop hat die Heilkunde revolutioniert und ist zum ärztlichen Statussymbol avanciert. Doch fast 200 Jahre nach seiner Erfindung halten manche Mediziner es für überflüssig – und sogar gefährlich.

Bevor die Ärztin den Schallkopf auf die Brust des Patienten legt, bittet sie ihn, sich „frei“ zu machen. Dann liegt das kalte Metall auf der nackten Haut, die akustisch verstärkten Schallwellen aus dem Brustraum dringen durch das flexible Rohr und seine beiden Verzweigungen zu den Ohren der Ärztin. Was sie hört, das Rauschen, Rasseln, Reiben, verrät ihr, ob die Herzklappen ihre Arbeit tun, ob das Herz schwach ist oder die Lungenbläschen überbläht. Das Stethoskop erlaubt zahlreiche Diagnosen, und es ist das Symbol schlechthin für den Arztberuf. Für die ungleiche Rollenverteilung zwischen Doktor und Patient, für die aufmerksame, intensive Zuwendung – bis heute.

Doch immer mehr Forscher glauben, dass das Stethoskop ins Museum gehört. Ultraschallbilder des Herzens würden das Gerät bald überflüssig machen, schrieben vor kurzem die US-Herzspezialisten Jagat Narula und Bret Nelson im Fachblatt „Global Heart“: „Die Zeit ist sicher reif für einen Wechsel; so wie Langspielplatten durch CDs und MP-3-Technik ersetzt wurden, wird das Stethoskop dem Ultraschall weichen.“ Andere Studien zeigen gar, dass das Stethoskop Patienten gefährden kann. Denn bei dem engen Kontakt von Gerät und Patient sammeln sich Keime, die dann zum nächsten Patienten weitergetragen werden.

Dabei schaffte das Stethoskop am Anfang gerade Distanz. Das Herz abzuhören war schon lange üblich, bereits Hippokrates erwähnt die Technik. In der Regel pressten Ärzte dafür ihr Ohr direkt an die Brust des Patienten – bis zum 17. Februar 1816. An diesem Tag setzte der junge Pariser Arzt René-Théophile-Hyacinthe Laënnec zum ersten Mal ein zum Zylinder zusammengerolltes Stück dünne Pappe ein, um die Übertragung der Schallwellen zu verbessern. Auf die Idee zu seiner Bastelarbeit kam er nach eigener Aussage, als er im Park Kindern zusah, die voller Freude ihr Ohr an einen Baumstamm hielten, an dessen anderem Ende ihr Spielkamerad mit einem Nagel reibende Geräusche machte. Laënnec nutzte das simple Rohr aus Gründen der Praktikabilität und der Sittlichkeit zuerst bei einer übergewichtigen jungen Dame: Es schickte sich nicht, das Ohr direkt an ihre Brust zu legen, und es hätte in diesem Fall auch akustisch weniger gebracht als bei einem schlanken Menschen. So schlug an diesem Februartag in Paris die Geburtsstunde des Stethoskops.

Doch zunächst überwogen die Zweifel. Kollegen in aller Welt taten die Erfindung als dekadente „französische Spielerei“ ab, als Werkzeug von Medizinern, die sich schlicht zu fein seien, ihr Ohr an die nackte Brust des Patienten zu halten. Laënnec versuchte die Fachwelt mit einem Buch zu überzeugen, das detailliert über den Erkenntnisgewinn dank „auscultation médiate“ informierte, über die Entsprechungen zwischen Rasseln, Brummen und Keuchen in den Lungen der Tuberkulose-Kranken oder fauchenden, rauschenden, gießenden Geräuschen bei Herzleidenden und dem, was man über Herz- und Lungenkrankheiten schon aus Befunden von Leichenöffnungen wusste.

Doch erst der Wiener Arzt Josef von Skoda sorgte mit seiner „Abhandlung zur Auskultation und Perkussion“ von 1839 unter deutschsprachigen Medizinern für Akzeptanz. Er teilte die Geräusche in vier Dimensionen: Voll und leer, dumpf und hell, hoch und tief, „tympanitisch“ (lang anhaltend und klingend) und „nichttympanitisch“. Und er machte sie zum Bestandteil der klinischen Ausbildung an Krankenhäusern. Vor allem für die Diagnostik der „Lungenschwindsucht“ gewann sie schnell an Bedeutung: Metallisch klingende, rasselnde Töne begleiten dabei als Nebengeräusche die Atmung. So wird auch in Thomas Manns 1924 erschienenem „Zauberberg“ die Diagnose gestellt, die zu dieser Zeit bereits durch eine Röntgenaufnahme gestützt werden konnte. Für die Patienten änderte die neue Methode zunächst aber wenig: Vor der Entdeckung der Antibiotika konnten die Ärzte nur zu Liegekuren und Diät raten.

Langsam gewann das Stethoskop an Verbreitung und veränderte sich zugleich. Aus den selbstgefertigten Papprohren wurden zunächst kurze, durchbohrte Holzzylinder. 1963 ließ sich David Littmann das Schlauch-Stethoskop mit den beiden flexiblen Rohren patentieren, das heute auf keinem Arztfoto und in keiner Arztserie fehlen darf.

Ausgerechnet dieses Insignium der ärztlichen Kunst erklärt nun eine Studie aus der Schweiz zur Gefahrenquelle für die Patienten. „Unter dem Gesichtspunkt der Infektionskontrolle und der Patientensicherheit sollte das Stethoskop als Bestandteil der Hand des Arztes betrachtet und nach jedem Patientenkontakt desinfiziert werden“, schreiben der Schweizer Infektionsexperte Didier Pittet und seine Kollegen in der aktuellen Ausgabe der „Mayo Clinic Proceedings“. Für ihre Untersuchung ließen die Forscher mehrere Mediziner insgesamt 71 Patienten abhören, und zwar mit Stethoskopen, die zuvor sterilisiert worden waren, und mit frischen Wegwerfhandschuhen. Nach dem Abhören untersuchten sie Hände und Stethoskop auf Bakterien. Sie stellten fest, dass das Gerät fast ebenso stark mit Keimen besiedelt war wie die Fingerspitzen der Ärzte. Das galt auch für Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA), ein Bakterium, das gegen gängige Antibiotika resistent und deshalb für viele Patienten besonders gefährlich ist. Die Mediziner folgern, dass Stethoskope ebenso wie Hände vor jedem neuen Patientenkontakt mit einer desinfizierenden Lösung abgerieben werden müssen.

Doch lohnt sich der Aufwand überhaupt? Die Herzspezialisten Jagat Narula und Bret Nelson von der Mount Sinai School of Medicine in New York glauben das nicht: Bald werde die Ära des Stethoskops ohnehin zu Ende gehen und das Gerät durch moderne Sonographie- oder Ultraschallgeräte ersetzt, die in jede Kitteltasche passen. „Sonographie“ heißt wörtlich „Schall-Aufzeichnung“, und auf der Grundlage der Ausbreitung von Schall hoher Frequenz („Ultraschall“) liefern die Geräte Schnittbilder von Körperstrukturen, die auf dem Monitor betrachtet werden können. Die Informationen hätten sich in ihrem Fachgebiet durch die Echokardiographie, den Herz-Ultraschall, so verbessert, dass das Auskultieren bald überflüssig werde, schreiben die beiden Kardiologen. Hinzu komme, dass die Geräte immer kleiner und handlicher würden – mit Schallköpfen, die „kaum größer sind als ein Kartenspiel“. „Medizinstudenten werden schon in der Ausbildung den Umgang damit trainieren, sie werden lebendige Anatomie und Physiologie erleben, wie das zuvor nur mittels Simulation erreichbar war“, schwärmen die beiden Herzspezialisten.

Schon mit der Einführung der ersten Röntgenuntersuchungen sei das Ohr als privilegiertes ärztliches Wahrnehmungsorgan vom Auge ersetzt worden, schreibt auch der Medizinsoziologe Jens Lachmund in seiner Geschichte des Stethoskops, „Der abgehorchte Körper“. Inzwischen sei die Deutungshoheit durch die moderne Bildgebung, durch Kernspintomographen, Röntgenuntersuchungen und Ultraschall, ganz auf den „technisierten Blick“ übergegangen. Das Auge hat in der Medizin über das Ohr gesiegt. Für Narula und Nelson ist die Frage nur noch, ob das Stethoskop wenigstens als nostalgisch angehauchtes Liebhaber-Objekt überlebt: „Werden einige Kliniker weiterhin auf die analoge Akustik des Stethoskops schwören, so wie einige Audiophile weiter behaupten, der Plattenspieler liefere den echten Klang?“, fragen sie in ihrem Artikel.

„Der Schallkopf ist das Stethoskop der Zukunft“, sagt auch Joseph Osterwalder vom Kantonsspital in St. Gallen. Der Mediziner leitet den Arbeitskreis Notfallsonographie der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (Degum). Er findet, dass heute jeder medizinische „Generalist“, ob nun Hausarzt, Internist, Intensivmediziner, Notfallmediziner oder Anästhesist, eine basale Form des Ultraschalls, die „fokussierte“ Sonographie, beherrschen sollte. Was das im Alltag bringt, zeigt die „Primus“-Studie, die das Schicksal von 1452 Patienten verfolgte, die zwischen April 2010 und Februar 2011 wegen unklarer Beschwerden in eine Notaufnahme gekommen waren. Rund drei Viertel der Patienten wurden innerhalb der ersten 24 Stunden per Ultraschall untersucht, die anderen erst später. Wichtigste Domäne des Ultraschalls sind in dieser Situation alle Unklarheiten im Bereich von Bauch und Brust, das Erkennen von Wasseransammlungen, Blut oder Schwellungen, von Ergüssen im Herzbeutel oder Luft im Lungengewebe. Bei 94,4 Prozent der früh Untersuchten hatte das Ergebnis Einfluss auf die Therapie, im Schnitt konnten sie drei Tage früher entlassen werden als die Vergleichsgruppe. Am besten sollte der Ultraschall schon im Rettungswagen gemacht werden, meint man bei der Degum. Schließlich sei die Verdachtsdiagnose wichtig, wenn es darum gehe, welche Klinik angesteuert wird.

Doch Matthias Leschke, Herz- und Lungenspezialist am Klinikum Esslingen, glaubt nicht, dass Ärzte bald auf das Stethoskop verzichten können. In der Abteilung für Kardiologie, Pneumologie und Angiologie des Klinikums gibt es vier der – mit rund 6000 Euro nicht ganz billigen – Ultraschallgeräte im Smart- phone-Format. „Sie sind sehr hilfreich, um eine Herzschwäche zu diagnostizieren oder einen Erguss im Lungenzwischenraum“, sagt Chefarzt Matthias Leschke. Das Stethoskop sei trotzdem nach wie vor nützlich. „Wir brauchen es im klinischen Alltag zur Diagnostik bei Luftnot, um eine Lungenstauung bei Herzschwäche oder den Verlauf einer Lungenentzündung zu beurteilen“, sagt er. Gerade bei Gewebe, in dem nicht Flüssigkeit, sondern Luft eingelagert ist, sei der Ultraschall weniger überzeugend. Krankhaft aufgeblähtes Lungengewebe etwa, wie es bei einer chronischen Bronchitis vorkommt, das typische „Giemen“ bei Asthma oder auch Darmgeräusche sind eine Domäne der „hörenden“ Medizin. Aus all diesen Gründen findet Leschke es immer noch wichtig, das systematische Untersuchen des Brustraums zu lernen, einschließlich des Abhörens. „Was hören Sie? Wie deuten Sie den Befund? Diese Fragen müssen in der Ausbildung junger Ärzte weiter vorkommen.“

Auch Osterwalder denkt nicht, dass die Abschaffung des Stethoskops unmittelbar bevorsteht. „Für die erste Beurteilung eines Patienten mit Beschwerden im Brustraum bleibt es wichtig.“ Langfristig könne der Ultraschall das Stethoskop vielleicht überflüssig machen. Heute ersetze er in vielen Fällen aber eher andere bildgebende Verfahren wie das Röntgen. Sollten die Ärzte sich wirklich vom Stethoskop verabschieden, dürfte das genauso langsam passieren, wie sie es einst willkommen hießen.

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